Ein Buch, das fasziniert und bewegt: Charlotte

„Sie schaut ihn an.
Und hält ihm ihren Koffer hin.
C’est toute ma vie, sagt sie schließlich.
Das ist mein ganzes Leben.“

Berlin. Charlotte Salomon wächst in den Zwanziger Jahren in einer gutbürgerlichen Familie in Berlin auf. Als sie neun Jahre alt ist, nimmt sich ihre Mutter das Leben. Der Selbstmord erscheint wie ein Fluch, denn es war nicht der erste in der Familie, und sollte auch nicht der letzte bleiben. Ihr Vater, ein berühmter Chirurg, stürzt sich in die Arbeit. Erst als er vier Jahre später die Schauspielerin Paula Lindberg heiratet, kehrt wieder Leben in das Haus der Salomons ein. Bedeutende Künstler und Wissenschaftler gehen ein und aus, wie Albert Einstein, Erich Mendelsohn und Albert Schweitzer.

Auch die verschlossene Charlotte findet Zuflucht in der Kunst – und beweist großes Talent. Doch nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wird schnell klar, dass kein Talent dieser Welt Charlotte nützen wird. Da ihr Vater im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft hat, darf Charlotte sogar zunächst an der Berliner Kunstakademie studieren – obwohl sie Jüdin ist. Doch eine wirkliche Chance hat sie nie. Als sich die Ereignisse zuspitzen, flieht Charlotte im Jahr 1939 ohne ihren Vater zu ihren Großeltern nach Südfrankreich, ins vermeintlich sichere Ausland. Dort widmet sie sich ihrem Lebenswerk, vollendet es in nur 18 Monaten – und wird schließlich vom Krieg eingeholt.

Ihr Lebenswerk, das ist eine gemalte Autobiografie, eine Bilderserie von 1.325 Gouachen im expressionistischen Stil mit dem Titel „Leben? Oder Theater? Ein Singespiel“. Die Werke – comichafte und filmisch inspirierte Szenen, hinterlegt mit Texten und musikalische Assoziationen – erzählen in drei Teilen von Charlottes tragischer Familiengeschichte, von ihrer großen Liebe, dem Gesangslehrer ihrer Stiefmutter Alfred Wolfsohn, und von ihrem Exil in Südfrankreich. Sie erzählen von einem kleinen Mädchen, das nach dem Tod der Mutter das Alleinsein lernt. Sie erzählen von ihrem Vater – und von ihrer Stiefmutter, die eine wichtige Rolle in Charlottes Leben eingenommen hat. Die Bilder erzählen vom Berlin der Zwanziger und Dreiziger Jahre, von Hass und Angst, Flucht und Exil, aber auch von Leidenschaft und Liebe. Sie sind sowohl leuchtend, als auch düster. Durch ihre Malerei kann die verschlossene Charlotte endlich all ihre Gefühle nach außen kehren – und lernt mit ihren Ängsten umzugehen.

Ich kannte weder den Autor David Foenkinos, noch die Malerin Charlotte Salomon. Was für ein Versäumnis! Der Erzählstil ist ungewöhnlich, irritiert zuerst. Das Buch ist im Präsenz aus verschiedenen Blickwinkeln geschrieben, jeder Satz beginnt in einer neuen Zeile. Selbst der Autor bringt sich mit in den Roman ein und beschreibt seine Erlebnisse und Gedanken im Rahmen der jahrelangen Recherchen.

„Ich saß immer da und wollte dieses Buch schreiben.
Aber wie?
Durfte ich selbst darin vorkommen?
Konnte ich aus Charlottes Geschichte einen Roman machen?
Welche Form sollte das Ganze annehmen?
Ich schrieb, löschte, kapitulierte.
Ich brachte keine zwei Zeilen zu Papier.
Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken.
Es ging einfach nicht weiter.
Das war körperlich beklemmend.
Ich verspürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.
Um durchatmen zu können.
Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genau so schreiben musste.“

Foenkinos begründet seinen Stil mit dem Bedürfnis, beim Erzählen innezuhalten, Atem zu holen. Nachdem man sich eingelesen hat, nimmt einen gerade dieser Erzählstil gefangen. Denn er passt einfach zu diesem Buch, zu diesem Leben, das einen atemlos und fassungslos zurück lässt. Charlottes Lebensweg ist vorgezeichnet, man weiß wie er enden wird – und doch hofft man bis zum Ende, liest jede Seite, jeden Satz voller Faszination, voller Entsetzen. Fasziniert von diesem Talent, von dieser starken und mutigen Frau und ihrem Umgang mit dem Schicksal. Entsetzt von den Gräueltaten jener Zeit, von der man gar nicht fassen kann, dass sie erst zwei Generationen zurückliegt.

Charlotte Salomon wurde im Oktober 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau vergast. Sie war 26 Jahre alt – und schwanger. Ihr Werk hat den Krieg überlebt – und wurde ihrem Vater und ihrer Stiefmutter übergeben, die in den Niederlanden Exil gefunden haben. Heute gehören Charlottes Bilder dem Jüdischen Historischen Museum Amsterdam. Mit seinem Buch trägt David Foenkinos dazu bei, ihr großartiges Vermächtnis in der Gegenwart zu verankern. Jeder Seite, jedem Wort merkt man an, dass den Autor das Schicksal der jungen Charlotte nicht mehr losgelassen hat, seit er Anfang des neuen Jahrtausends zum ersten mal ihre Bilder in einer Ausstellung sah. Es war, so Foenkinos in einem Interview, Liebe auf den ersten Blick. Denn in diesem Augenblick – im Angesicht von Charlottes Werk – erkannte er ein Thema, das ihn schon Zeit seines Lebens bewegt hat – und das auch seine Schriftstellerei stets beeinflusst hat: Wie kann man Trauer überwinden? Und wie kann man im Angesicht der Katastrophe weitermachen?

Ich bin sehr froh, dass ich Charlotte kennenlernen durfte – und freue mich auf meine nächste Reise nach Amsterdam!

Der erste Satz

„An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen.“

Buchinformationen

Charlotte von David Foenkinos, Taschenbuchausgabe, erschienen im November 2016 im Penguin Verlag (Verlagsgruppe Random House). Aus dem Französischen von Christian Kolb. 240 Seiten, 10,00 Euro. Deutsche Erstausgabe erschienen im August 2015 im DVA Verlag. Originalausgabe erschienen 2014 unter dem Titel „Charlotte“ bei Editions Gallimard, Paris.

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Über den Autor

David Foenkinos, 1974 geboren, lebt als Schriftsteller und Drehbuchautor in Paris. Seit 2002 veröffentlicht er Romane, darunter den Millionenbestseller „Nathalie küsst“. Seine Bücher werden in rund vierzig Sprachen übersetzt. „Charlotte“, wurde 2014 mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet und hat sich allein in Frankreich rund eine halbe Million Mal verkauft.“


Genre: Belletristik, Biografie, Roman
Subjects: Angst, Berlin, Deutschland, Familie, Flucht, Gesellschaft, Krieg, Kunst, Leben, Liebe, Malerei, Nationalsozialismus, Schicksal, Selbstverwirklichung, Tod

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