Der Zopf – vom Mut dreier Frauen

„Ich widme meine Arbeit all den Frauen, die durch ihre Haare miteinander verknüpft sind wie zu einem großen Seelengeflecht. Denen, die lieben, gebären, hoffen, die stürzen und sich wiederaufrichten, Tausende Male, die leiden, aber nicht zugrunde gehen. Ich kenne ihre Kämpfe, ich teile ihre Tränen und ihre Wonnen. Jede von ihnen ist ein Teil von mir.

Drei Frauen, drei Leben, drei Kontinente. Die Geschichte dreier außergewöhnlicher Frauen, die sich nicht kennen und deren Leben so grundverschieden ist – verwoben zu einem wunderbaren Zopf, drei ineinander geschlungenen Haarsträngen: In Badlapur kämpft die Inderin Smita darum, dass ihre Tochter ein besseres Leben führen kann und setzt dafür alles auf’s Spiel. In Montreal wird Powerfrau Sarah durch eine Diagnose aus ihrem durchgetakteten Leben gerissen. Und in Sizilien setzt die Italienerin Giulia alles daran, das Familienunternehmen, die letzte Perückenfabrik Palermos, vor dem Ruin zu retten.

Dieses Buch hat mir meine Buchhändlerin empfohlen und sie hat mit ihrer Empfehlung wieder mal ins Schwarze getroffen. Laetitia Colombani hat ein Buch geschrieben, dessen Charaktere einen starken, bleibenden Eindruck hinterlassen und das den Mut aller Frauen dieser Welt feiert – so unterschiedlich sie auch sein mögen.

Ganz besonders berührt hat mich das Schicksal von Smita, die in Indien entgegen jeder Aussichtslosigkeit für das Schicksal ihrer Tochter kämpft. Smita ist eine Dalit, was in Sanskrit soviel bedeutet wie „vertrieben“ oder „niedergetreten. Sie ist eine aus dem Kastensystem ausgeschlosse Nachfahrin indischer Ureinwohner, und teilt damit das Schicksal mit 160 Millionen hinduistischen Dalits, die in ihrem Land als unrein gelten und dadurch jeden Tag Diskriminierung, Gewalt und Isolation ausgesetzt sind. Doch Smita will sich nicht – wie so viele andere Dalit – mit ihrem Schicksal zufrieden geben. Sie will es nicht als ihr Karma ansehen, dass sie als Unberührbare dazu verdonnert ist, außerhalb der Gesellschaft zu leben und als Kloputzerin die Toiletten der Jat-Familien zu leeren – mit bloßen Händen. Sie will kämpfen – für die Bildung und das Leben ihrer Tochter.

„Ihre Tochter wird die Schule besuchen. Es war nicht einfach, Nagarajan davon zu überzeugen. Wozu soll das gut sein?, hat er eingewendet. Selbst wenn Lalita Lesen und Schreiben lernt, wird ihr hier keiner eine Arbeit geben. Wer als Kloputzer auf die Welt kommt, stirbt auch als Kloputzer. Es ist ein Erbe, ein Kreislauf, aus dem niemand ausbrechen kann. Ein Karma.“

Ich wusste bislang nicht allzuviel vom Schicksal der Unberührbaren in Indien und erschreckenderweise wusste ich nichts vom Schicksal indischer Witwen, die von ihren Familien verstoßen und von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, weil sie es nicht geschafft haben die Seele des Ehemannes zu halten. Auch davon erfährt man in diesem Buch. Früher wurden sie gezwungen, mit ihrem Mann in den Tod zu gehen und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aber auch heute noch leben diese Frauen in Isolation und Armut und der einzige Ausweg ist oft ein Kloster oder ein Leben im Exil. Wollt ihr mehr über das Schicksal dieser Frauen erfahren? Hier findet ihr einen guten Spiegel-Artikel zum Thema…

„Smita nickt stumm. Sie weiß: Eine Frau verfügt über keinerlei eigene Besitztümer, mit der Hochzeit schenkt sie ihrem Ehemann alles, was sie hat. Verliert sie ihn, hört sie auf zu existieren.“

Ganz anders, aber ebenso aufrüttelnd ist das Schicksal von Sarah. Die kanadische Anwältin ist eine Figur, in der sich in unserer Leistungsgesellschaft vielleicht viele Frauen (und auch Männer?) wiederfinden. Zielstrebig, effizient, durchorganisiert. Sie liebt ihre Kinder, aber sie lebt für ihre Karriere. Sie betrachtet ihr Leben als langen Aufstieg, ohne die wirkliche Hoffnung, jemals den Gipfel zu erreichen – und dabei bleibt vieles auf der Strecke. Sogar als ihr Körper plötzlich seinen Dienst verweigert, setzt sie alles daran, ihre Karriere aufrecht zu halten, weiter zu funktionieren. Wann wird sie beginnen, ihr Leben zu hinterfragen?

„Wie ein tapferer kleiner Soldat geht sie wieder an die Front, setzt sich die Maske auf, die sie immer getragen hat und die ihr so gut steht: die lächelnde Frau, der alles gelingt.“

Und schließlich gibt es da noch Giulia, die in Palermo um die Perückenfabrik ihres Vaters kämpft und nach seinem Unfall ganz plötzlich erwachsen werden und eigene Entscheidungen treffen muss. Dabei will sie im Sinne der Liebe und der Leidenschaft ihres Vaters zum Familienunternehmen handeln und muss doch ihren ganz eigenen Weg finden.

„Ihr Vater wacht über die Haare wie ihre Mamma über die Pasta. […] Die Sorgfalt, mit der er jede seiner Bewegungen ausführt, lässt Geduld, Strenge und auch Liebe erkennen. Diese Haare, sagt er, werden eines Tages getragen, und deshalb verdienen sie den allergrößten Respekt.“

Die Schicksale und der Mut dieser Frauen haben mich sehr bewegt. Laetitia Colombani schreibt in farbigen Bildern und lässt die drei Länder und das Leben der Frauen lebendig vor dem inneren Auge entstehen und uns daran teilhaben. Bei Smita gelingt ihr das meines Erachtens am besten. Ein beachtliches Romandebüt der Filmschauspielerin und Regisseurin, dessen Filmrechte natürlich bereits vergeben sind. Kurz gesagt: lesen!

Der erste Absatz

„Es ist der Beginn einer Geschichte.
Einer neuen Geschichte, jedes Mal.
In meinen Händen erwacht sie zum Leben.

Buchinformationen

Der Zopf von Laetitia Colombani, gebundene Ausgabe, erschienen 2018 im S. Fischer Verlag. Aus dem Französischen von Claudia Marquardt. 288 Seiten, 20,00 Euro. Deutsche Erstausgabe erschienen 2018. Originalausgabe erschienen 2017 unter dem Titel „La Tresse“ bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris.

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Über die Autorin

Laetitia Colombani wurde 1975 in Bordeaux geboren, sie ist Filmschauspielerin und Regisseurin. »Der Zopf« ist ihr erster Roman und sorgte gleich nach Erscheinen für internationales Aufsehen. Der Roman steht seit Erscheinen weit oben auf der amazon-Bestsellerliste und erscheint in 27 Ländern. Die Filmrechte sind bereits vergeben. Laetitia Colombani lebt in Paris.“


Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur, Gesellschaftsroman, Roman
Subjects: Beruf, Bildung, erwachsen werden, Familie, Frauen, Gesellschaft, Glaube, Glück, Heimat, Indien, Italien, Kanada, Karriere, Kinder, Krankheit, Krebs, Leben, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, Mut, Schicksal, Selbstverwirklichung, Sizilien, Solidarität, Trauer, Traum, Zusammenhalt

Ich freue mich über eure Kommentare, Fragen, Meinungen, Anregungen und und und :-) ...

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