Was für ein Debüt! „The Girls“

 


„Wir wollen alle gesehen werden.“

Wir schreiben das Jahr 1969. Die 14-jährige Evie Boyd lebt eines von vielen Teenagerleben. Ihre Eltern haben sich scheiden lassen. Ihre Mutter ist auf dem Selbstfindungstrip. Ihr Vater irgendwie unnahbar. Evie fühlt sich ungesehen, ungeliebt, mittelmäßig. Selbst ihre beste Freundin Conny erscheint ihr manchmal banal und nichts sagend. Evie spürt eine Sehnsucht in sich – eine Sehnsucht nach ‚Mehr‘, eine Sehnsucht nach Zuwendung und Anerkennung, nach Bestätigung und bedingungsloser Liebe. Sie möchte gesehen werden, wirklich gesehen. Und eines Tages, während eines weiteren farblosen Sommers, sieht sie sie: die „Girls“.

„Sobald ich die Mädchen erblickt hatte, wie sie sich einen Weg durch den Park bahnten, blieb meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet. Die Schwarzhaarige mit ihren Begleiterinnen, ihr Gelächter ein Tadel meines Alleinseins.“

Die Mädchen tragen ihr Haar lang und ungepflegt, ihre Kleidung provozierend schäbig. Sie lachen laut – und kümmern sich nicht um Konventionen oder darum, wer sie ansieht und wie sie auf andere wirken. Und genau dieses gelassene Selbstverständnis nimmt die junge Evie, die selbst immer verzweifelt – und erfolglos – versucht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, gefangen.

„Kein Wunder, dass der Junge angewidert gewirkt hatte: Er musste die Sehnsucht in mir wahrgenommen haben. Dass mein Gesicht so überdeutlich von Bedürftigkeit sprach wie der leere Teller eines Waisenkindes. Und das war der Unterschied zwischen mir und der Schwarzhaarigen – ihr Gesicht beantwortete seine Fragen alle selbst.“

Durch einen Zufall lernt Evie eines der Mädchen kennen – die Schwarzhaarige, Suzanne – und fühlt sich gleich von ihr in den Bann gezogen. Suzanne und die anderen nehmen sie mit zur Ranch – eine heruntergekommene Farm in den Hügeln Kaliforniens, Zufluchtsort junger, orientierungsloser Menschen. Eine sektenähnliche Hippiekommune. Während die anderen Mädchen – und auch Jungs – ihren Anführer Russell anhimmeln und ihm bedingungslos folgen, fühlt sich Evie vor allem zur 19-jährigen Suzanne hingezogen. Von ihr fühlt sich Evie, trotz aller Widersprüchlichkeit, wahrgenommen. Ein völlig neues Gefühl für den Teenager.

„Vor Suzanne hatte mich nie jemand angesehen, jedenfalls nicht richtig, also war sie zu meiner Definition geworden.“

Und so wird Evie zur Jüngerin Suzannes – und damit auch zur Jüngerin Russells – und steuert mit der gesamten Kommune immer weiter auf den Abgrund zu – bis zum Schluss, wenn Russell seinen mörderischen Auftrag gibt: „Tut etwas, von dem die ganze Welt erfahren wird.“


„The Girls“ ist ein Buch, dass die Meinungen der Leserschaft spaltet. Ich selbst kann kaum fassen, dass die Autorin das Buch mit Mitte zwanzig verfasst hat. Emma Cline, geboren 1989, soll für ihr Werk, an dem sich Scott Rudin („Grand Budapest Hotel“, „No Country for Old Man“, „Die Truman Show“, „Extrem laut und unglaublich nah“) bereits die Filmrechte gesichert hat, einen Vorschuss von zwei Millionen Dollar erhalten haben. Und der Roman ist aus meiner Sicht wirklich einzigartig. Beunruhigend, packend und erschreckend real. Emma Cline führt uns ein in eine Welt, in der Unvorstellbares vorstellbar wird – und in der wir uns vielleicht manchmal sogar selbst erkennen.

Emma Cline thematisiert in ihrem Roman die Beeinflussbarkeit junger Mädchen, ihre Sehnsucht nach Anerkennung, ihren Wunsch gesehen zu werden. Man trifft in diesem Buch auf viele junge Mädchen, die leicht zu beeindrucken sind, die den Jungs gefallen wollen – bis hin zur Selbstaufgabe. Im ersten Moment fragt man sich, was ein Mädchen dazu bringen kann, sich einem anderen Menschen – männlich oder weiblich – auf diese Weise zu unterwerfen, sich keine eigene Meinung mehr zu bilden und einen Menschen mit so offensichtlichen Schwächen zum göttlichen, allwissenden Wesen hoch zu stilisieren. Doch Cline schafft es, Evies Beweggründe und ihren Weg dorthin so nachvollziehbar zu zeichnen, dass man sich unwillkürlich selbst wieder als Teenager sieht, sich an Schulkameraden erinnert und sich fragt: „Ist das wirklich so unvorstellbar?“ Wie weit können junge, unsichere Teenager bereit sein zu gehen, auf ihrer Suche nach Zugehörigkeit und Anerkennung? Wie beeinflussbar macht sie ihr Dürsten nach Zuwendung, Aufmerksamkeit und Liebe? Was muss in der Kindheit falsch laufen, damit sie sich eine abwegige Art der Kompensation suchen? Was ist, wenn einem das Elternhaus keinen dauerhaften Halt gibt?

„Später erkannte ich, dass die Angst die ganze Zeit dagewesen war. Die Aufregung, die ich verspürte, wenn unsere Mutter mich mit dem Kindermädchen allein ließ, Carson, die klamm roch und im falschen Sessel saß. Dass man mir ständig erzählte, wie prächtig ich mich doch amüsiere, und es keine Möglichkeit gab zu erklären, dass das nicht stimmte. Und selbst Momenten des Glücks folgte jedes Mal irgendeine Enttäuschung – das Lachen meines Vaters, dann die Hektik, um mit ihm Schritt zu halten, während er mir weit vorausging. Die Hand meiner Mutter auf meiner fieberheißen Stirn, dann das verzweifelte Alleinsein in meinem Krankenzimmer, meine Mutter irgendwo im Haus verschwunden, wo sie mit einer Stimme, die ich nicht kannte, mit jemandem telefonierte.“

Emma Cline reißt in ihrem Roman so einige Erklärungsmöglichkeiten an, die Evie Boyd in die Sekte getrieben haben können oder die dazu geführt haben, dass Russells Anhänger ihm so gefügig und unreflektiert gefolgt sind. Doch Cline vermittelt auch eine Botschaft zwischen den Zeilen: das Menschen zu solchen Taten fähig sind, hat trotz aller Analyseversuche immer auch etwas Unbegreifliches. Und sogar Evie, die viele Jahre später auf ihr Teenagerleben zurückblickt, stößt in ihrer Hoffnung nach Erklärungen auf Grenzen.

Obwohl man schon vorher ahnt, worauf das Buch am Ende hinausläuft, ist die Handlung unglaublich spannend. Denn man weiß nicht auf welche Weise es passiert und in wiefern Evie daran beteiligt ist. Und so liest man, begleitet von einer düsteren Vorahnung, Seite um Seite, hofft und bangt gleichzeitig, das das Ende des Buches naht.

In dem Roman geht es eigentlich aber weniger um die Hippie-Zeit oder das eigentliche Massaker, sondern es ist vielmehr eine Coming-of-Age-Story, die die Beeinflussbarkeit junger Heranwachsender beleuchtet. Das die Story an die reale Geschichte von Hippie-Guru Charles Manson und seinem Massaker angelehnt ist, bildet dabei nur den schaurigen Rahmen.

Sprachlich ist der Roman, für den man ein gewisses Maß an Konzentration braucht, eine Naturgewalt – wie die Autorin es schafft, Details und Stimmungen einzufangen. Cline schreibt sehr bildhaft – sowohl aus der Perspektive des 14-jährigen beeinflussbaren Teenagers als auch aus Sicht der heute erwachsenen Frau. Besonders die jugendliche Perspektive hat mich dabei überzeugt. Ich bin so begeistert, dass ich mich wirklich nur ungern von diesem Roman getrennt habe. Und das schriftstellerische Talent der Autorin lässt mich schwindelig zurück. Ich war froh zu lesen, dass Emma Cline bereits zwei weitere Buchverträge in der Tasche hat. Meine Erwartungen an folgende Werke sind natürlich dementsprechend hoch.

Übrigens, auch im Literarischen Quartett war man sich einig: dieses Buch ist unbedingt lesenswert!

Buchinformationen

The Girls von Emma Cline, Hardcover, erschienen im Juli 2016 im Hanser Verlag, 352 Seiten. 

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Über die Autorin

„Emma Cline, geboren 1989, wuchs mit ihren sechs Geschwistern im nordkalifornischen Sonoma auf. Nach einem Master of Fine Arts an der Columbia University zog sie nach Brooklyn. Sie schreibt u. a. für den New Yorker und Oprah . 2014 hat sie den Plimpton Prize for Fiction der Paris Review erhalten. 2016 ist bei Hanser ihr Debütroman The Girls erschienen.“


Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur, Roman
Subjects: Anerkennung, Einsamkeit, Familie, Freundschaft, Hippie-Zeit, Leben, Lebenswege, Liebe, Massaker, Mittelmäßigkeit, Sekte, Teenager, Zugehörigkeit

2 Reaktionen

  1. Cora
    Cora um · Antwort

    Hi, ich habe das Buch diese Woche zu Ende gelesen und war auch ganz angetan. Ich hab die Sendung vom Literarischen Quartett auch gesehen und muss mich – zumindest teilweise – auf die Seite von Maxim Biller schlagen: ihr Schreibstil ist gerade am Anfang so gekünstelt, dass ich manchmal schon richtig genervt war. Was ich sehr schade finde, da die Handlung und der Aufbau des Buches fantastisch sind. Wenn sie ein wenig schlichter geschrieben hätte, hätte mir das Buch besser gefallen.

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