Märchenstunde - zu grausam für mein Kind?

Märchenstunde – zu grausam für mein Kind?

maerchenbuch_illustration3Diese Woche war der Nikolaus bei uns und hat meinem Sohn, viereinhalb Jahre alt, sein erstes Märchenbuch geschenkt. Wunderschön illustriert werden die Geschichten der Gebrüder Grimm erzählt. Froschkönig, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Rumpelstilzchen, Rapunzel, Der Wolf und die sieben Geißlein… die ganzen Klassiker eben. Finn war auch ganz aus dem Häuschen und abends wurden vor dem Zubettgehen natürlich schon drei der erwähnten Märchen vorgelesen. Allerdings hat es mich beim Vorlesen dann tatsächlich selbst ein bisschen gegruselt. Der Wolf frisst die Großmutter und wird nachher aufgeschlitzt, die Stiefmutter setzt die Kinder im Wald aus, die Hexe wird im Ofen verbrannt und der Königssohn stürzt vom Turm herab und sticht sich die Augen aus… Natürlich kenne ich die Märchen noch aus meiner eigenen Kindheit – und ich kann nicht behaupten, dass ich einen Schaden davongetragen haben. Ich würde sogar meinen, dass mir die Geschichten – ebenso wie die vom Struwwelpeter – heute grausamer erscheinen als damals. Aber als ich meinen Sohnemann dann so im Arm hatte und vom Tod und dem Bösen vorlas, überkamen mich dann doch Zweifel, ob diese Geschichten für seine zarte Kinderseele geeignet sind.

Daraufhin fing ich an, im Netz zu recherchieren und habe festgestellt, dass die pädagogische Auseinandersetzung mit der Grausamkeit von Märchen bereits seit mehr als 200 Jahren geführt wird – wie ein Briefwechsel zwischen Wilhelm Grimm und Achim von Arnim (Deutscher Schriftsteller und langjähriger Freund der Gebrüder Grimm) aufzeigt.

Im Angesicht all der Grausamkeiten dieser Welt möchte man sein Kind natürlich vor allem Bösen beschützen und fernhalten. Aber es ist Tatsache, dass das Böse Teil dieser Welt ist, und dunkle Seiten laut Psychoanalyse in jedem von uns lauern. Daher sollte man das Offensichtliche nicht verdrängen. Der Meinung ist Oliver Geiste in seinem Artikel „Achtung böse! Die zehn grausamsten Märchen der Brüder Grimm“. Es kommt insbesondere auf die Auswahl der Märchen an.

„Nicht jedes Märchen eignet sich für jedes Kind. Aber kein Märchen ist völlig ungeeignet für alle  Kinder.“

In seinem Text beschreibt er allerdings ein paar wirklich grausame Geschichten, die ich meinem Sohn wohl niemals vorlesen werde. Wie beispielsweise die Geschichte „Das eigensinnige Kind“. „Weil  ein  Kind zu eigensinnig ist und nicht auf seine Eltern hört, lässt Gott es so krank werden, dass es stirbt. Doch der eigentliche Grusel beginnt erst jetzt: „Als es nun ins Grab versenkt und Erde über es hingedeckt  war, so kam auf einmal sein  Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus.“ Ruhe findet das tote Kind erst, als die Mutter mit der Rute auf sein Ärmchen schlägt. Die Moral für das Kind: Sei niemals eigensinnig, sondern tu, was  man  dir  sagt.“ Wahrhaftig keine Botschaft, die ich meinem Sohn vermitteln möchte.

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Sind also Märchen, die mit Abschreckung und Angst arbeiten, nicht mehr zeitgemäß für eine moderne Pädagogik, die die freie Entfaltung und Mündigkeit der Kinder fördern will? Ich sage doch, wenn man auf die Auswahl des Vorgelesenen achtet. Ich bin im Zuge meiner Recherche auf einen tollen Beitrag der Zeitschrift Leben & erziehen gestoßen, der sich mit dem Thema beschäftigt. Daraus möchte ich eine wichtige Passage zitieren:

„Dass Märchen Kindern alles andere als Angst machen, hat der berühmte Kinderpsychologe Bruno Bettelheim in seinem Klassiker „Kinder brauchen Märchen“ bereits in den 1970-er Jahren eindrucksvoll beschrieben. Seine Erkenntnisse decken sich mit denen der modernen Entwicklungspsychologie: Wolf, Hexe und andere dunkle Gestalten im Märchen symbolisieren die Ängste, die kleine Kinder noch nicht in Worte fassen können, etwa Wut und Eifersucht. Die Kleinen finden im Märchen ein Ventil, diese Ängste zu verarbeiten. Die klare Differenzierung von „gut“ und „böse“ ist für sie sehr wichtig. Sie hilft ihnen wie ein Navi, sich in der immer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden.“

Laut dem Artikel entsprechen die Bilder in den Märchen der Weltsicht von Kindern zwischen zwei und sieben Jahren, das sogenannte magische Alter, in dem Kinder sich die Welt mit Hilfe von Symbolen und Bildern erklären, sagt auch Dr. med. Andrea Schmelz, die Eltern auf Elternwissen.com zum Märchenerzählen animiert. Kinder in diesem Alter können noch nicht die verschiedenen Abstufungen und verschwommenen Grenzen zwischen Gut und Böse erkennen. Für sie ist eine klare Unterteilung in Gut und Böse von großer Wichtigkeit, das so genannte Schwarz-Weiß-Denken, damit sie sich orientieren können. Und so siegt im Märchen auch immer das Gute über das Böse. Mit Hilfe der Märchengestalten lernen Kinder, dass Hindernisse und Ängste überwunden werden können. „Die Grausamkeit, die Erwachsene in die Geschichten interpretieren, nehmen Kinder so nicht wahr“, sagt auch Märchenforscher und Volkskundeprofessor Heinz Rölleke. Märchen verleihen lediglich den Ängsten, mit denen das Kind zu kämpfen hat, Gestalt und zeigen Wege auf, wie diese zu bewältigen sind.

Die meisten Experten empfehlen Märchen für Kinder ab etwa vier Jahren, da sie erst dann in der Lage sind, wirklich zuzuhören und sich auf ein Märchen einzulassen. Empfohlen werden für kleine Kinder vor allem die Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm. Die altertümliche Sprache wird von den Kindern geliebt und fördert die sprachliche Entwicklung. Märchen regen die Phantasie an und vermitteln Werte, die nie ihre Gültigkeit verlieren. Nun ja, zumindest in den meisten Fällen, denn das Märchen vom eigensinnigen Kind ist hier meiner Meinung nach kein wirklich gutes Beispiel.

Ich für meinen Teil verbinde Märchen mit einer schönen Kindheit und einer geborgenen Atmosphäre, in der mein Vater mir abends vor dem Schlafengehen Geschichten vorgelesen hat. Und noch heute, wenn er das uralte Märchenbuch hervorkramt, um seinem Enkel daraus vorzulesen, überkommen mich sentimentale Gefühle und Erinnerungen an damals. Ich denke, wenn mein Sohn die Geschichten mag und sie ihm nicht zu gruselig sind, werde ich ihm aus seinem neuen Buch vorlesen und – wer weiß – vielleicht eines Tages meinen Enkeln. 

Wie handhabt ihr das mit Märchen? Lest ihr sie euren Kindern vor und wenn ja ab welchem Alter?

 

Allen Märchenerzählern kann ich übrigens die Ausgabe „Meine wunderbare Märchenwelt – Die schönsten Märchen der Brüder Grimm“ aus dem Kerleverlag nur wärmstens ans Herz legen. Barbara Bedrischka-Bös hat dieses Buch wirklich herrlich illustriert, die Kleinen haben also auch was zu gucken. Und der Band erzählt mit seiner Sammlung von 20 Märchen die schönsten – und scheinbar nicht die grausamsten – Geschichten der Gebrüder Grimm. 176 Seiten, 16,95 Euro, ISBN 978-3-451-71115-2

 

Inhalt:

Der Froschkönig
Der Wolf und die sieben Geißlein
Hänsel und Gretel
Brüderchen und Schwesterchen
Rapunzel
Frau Holle
Aschenputtel
Die sieben Raben
Das tapfere Schneiderlein
Die Bremer Stadtmusikanten
Dornröschen
Tischlein deck dich
Goldesel und Knüppel aus dem Sack
König Drosselbart
Rumpelstilzchen
Schneewittchen
Die goldene Gans
Hans im Glück
Schneeweißchen und Rosenrot

 

Zu den Gebrüdern Grimm (s. Artikel im Focus):

– Jacob Grimm wurde am 4. Januar 1785 in Hanau geboren als Sohn des Justizmanns Philipp Wilhelm Grimm und dessen Frau Dorothea. Er ist der ältere Bruder von Wilhelm Grimm (24. Februar 1786 bis 16. Dezember 1859).

– Nach seinem Abschluss des Lyceums Fridericianum in Kassel studierte er ebenso wie Wilhelm auf Wunsch des Vaters Rechtswissenschaften in Marburg. Im Gegensatz zu Wilhelm ging Jacob ohne Abschluss ab.

– 1812 veröffentliche er mit seinem Bruder Wilhelm die erste Märchenkollektion „Kinder- und Hausmärchen“, an der die beiden Brüder fünf Jahre lang gearbeitet hatten. Große Bekanntheit erlangten die beiden Brüder jedoch erst, als ihre Märchensammlung auch in andere Sprachen übersetzt wurden.