Über die Abgründe von Mutterschaft: Das Geflüster

„Natürlich wünschen sich alle Mütter, dass ihre Kinder glücklich werden. Ich meine nur, dass es für Mütter fast unmöglich ist, sich in disesem Prozess nicht selbst zu verlieren. Gewissermaßen ist das eine Art… freiweilliger Tod.“

Irgendwo, in einer anonymen amerikanischen Vorstadt.  Whitney, Mutter von drei Kindern und erfolgreiche Geschäftsfrau, scheint das perfekte Leben zu führen – bis die Fassade bei einer Gartenparty bröckelt und sie die Kontrolle verliert. Ihre Nachbarin Blair, Hausfrau und Vollzeitmutter, erscheint so zufrieden, hegt aber heimlichen Neid auf Whitney und einen unterdrückten Groll auf ihren Mann. Rebecca, Ärztin in der Notaufnahme, sehnt sich verzweifelt danach, Mutter zu werden, muss aber immer wieder Fehlgeburten erleiden. Und Mara, die älteste der vier Nachbarinnen, ringt auch im hohen Alter noch mit der Trauer über den Tod ihres Sohnes und dem Hass auf ihren eigenen Ehemann.

Buchcover Das Geflüster

Das Geflüster von Ashley Audrain ist eines dieser Bücher, die einen mit mulmigem Gefühl zurücklassen, das noch lange nach der letzten Seite anhält. Es ist düster, fesselnd und wirft Fragen auf, die man lieber nicht beantworten möchte. Und genau das macht es so unglaublich packend. Auch wenn es für mich durchaus auch Schwächen hat, finde ich das Buch sehr empfehlenswert.

Das Besondere ist die psychologische Tiefe, sind die Abgründe, die bis an die Grenze zur Schmerzhaftigkeit beleuchtet werden. Schonungslos zeigt die Autorin die Schattenseiten von Mutterschaft, Ehe und Familie und legt dabei den Finger oft tief in die Wunde.

„Ich verlasse dich. Zum ersten Mal hat sie so etwas gesagt, die Möglichkeit erwähnt, so etwas zu tun. Dass sie diese Wahl hat. Aber der einzige Unterschied zwischen ihr und einer Mutter, die einfach geht, falls es denn überhaupt einen Unterschied gibt, ist, dass Whitney bereits weiß, dass dieser Schritt keine Erleichterung bringen würde. […] Stattdessen hat sie gelernt, abwesend zu sein, selbst wenn sie anwesend ist. Sie besitzt die Fähigkeit, durch ihre Kinder hindurchzuschauen, sie sieht ihre Lippenbewegungen und nickt. Sie kann irgendwo sein und gleichzeitig hier. Sie ist eine Illusion. Aber verlassen hat sie sie nie.“

Alle vier Frauen mühen sich ab, um die Illusion eines perfekten Lebens aufrechtzuerhalten, doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sich in den Fassaden dieser Nachbarschaft tiefe Risse. Sie haben ihren Ursprung in Anpassung, Selbstverleugnung, aufgestauten Gefühlen und dem ständigen Druck, Erwartungen gerecht zu werden. Es ist eine Auseinandersetzung mit den Erwartungen an Frauen, Mütter und das Bild der perfekten Familie. Audrain fordert uns auf, genau hinzusehen und nicht nur die Oberfläche zu betrachten. Denn unter dieser lauern oft Abgründe.

„Sie spielt nicht gern. Um die Wahrheit zu sagen, hasst sie es. Spielen ist unproduktiv. Sie hasst Plastikwannen voller Spielzeug, hasst es, auf dem Fußboden zu sitzen. Sie hasst es, wie ein Auto zu brummen oder einen Puma nachzuahmen. Sie hasst die Alltäglichkeit. Sie hasst es, unbeschwert, fröhlich und überrascht zu klingen, wenn sie das nicht ist. Sie hasst es, ein Interesse an Dingen zu heuscheln, die nicht real sind.“

Es ist das Spannungsverhältnis von Freundlichkeit und Gleichgültigkeit, von Missgunst, Eifersucht und Betrug, das diese vier Frauen miteinander verbindet. Was die Autorin dabei besonders deutlich macht, ist die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdbild. Jeder kämpft mit seinen inneren Dämonen, hält Enttäuschung und Verbitterung im Zaum, doch im entscheidenden Moment bricht die Fassade und was sich dahinter auftut, davor möchte man lieber die Augen verschließen.

Der Roman beleuchtet das Thema Mutterschaft in all seinen Facetten: vom unerfüllten Kinderwunsch und dem Verlust eines Kindes, über die Herausforderungen der Erziehung und fehlende Aufopferungsgabe bis hin zur Selbstaufgabe in der Mutterrolle. Dabei zeigt sich, wie stark der Druck ist, dem Frauen vielfach ausgesetzt sind und dem sie versuchen, gerecht zu werden – oftmals auf Kosten ihrer eigenen Identität und Zufriedenheit.

„Sie genießt es mehr, ihrem Beruf nachzugehen, als müßige Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Diese vertrödelten Stunden bringen ihr nichts. Sie sieht sich nicht als diesen warmen Körper, der tägliche Abläufe anleitet, dafür sorgt, dass alles wie am Schnürchen läuft, dass Wechselsachen da sind und Sonnencreme aufgetragen wird. Die ständigen Forderungen, das Gequengel, die Launenhaftigkeit, {…}. Sie braucht Zeitfenster mit ihnen, keine Ewigkeiten. Kleine, überschaubare Fenster.“

Das Geflüster liest sich wie eine Mischung aus Roman und Thriller – und ist dabei manchmal kein leichtes Lesevergnügen. Man sollte vielleicht eine Triggerwarnung aussprechen, weil das Thema Fehlgeburt hier doch sehr plastisch und eindringlich geschildert wird.

Leider bleibt für mich trotz des vielen Lobs ein großes Manko: Die Figuren wirkten auf mich etwas stereotyp und eindimensional. Sie sind geprägt von Misstrauen und Wut, und es fehlt ihnen an Sympathie. Trotz der intensiven Themen und obwohl sich der Leser vielleicht an einigen Stellen ertappt fühlt, bleibt er in einer gewissen Distanz. Die Geschichte ist spannend erzählt, aber die permanente Selbstbeschäftigung der Charaktere erschwert das Mitfühlen.

Fazit: Das Geflüster ist trotz einiger Schwächen ein intensiver, verstörender und fesselnder Roman. Ashley Audrains zweiter Roman geht unter die Haut und klingt nach – nicht zuletzt wegen seiner unbequemen Wahrheiten.

„Ein Gefühl, das jemand einmal als „Geflüster“ bezeichnet hat – das dir mitteilen will, dass etwas nicht stimmt. Problematisch ist nur, dass ihm manche Frauen nicht lauschen. Sie hören das Geraune erst, wenn sie die Vergangenheit Revue passieren lassen.“

Der erste Satz

„Er hält sich zwei Finger an die Nase und atmet ihren Geruch ein.

Buchinformationen

Das Geflüster von Ashley Audrain, 2024, 345 Seiten, erschienen im Penguin Verlag, Hardcover 22 Euro. Originaltitel: The Whispers. Erschienen bei Pam Dorman Books/Viking, New York 2023.

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Über die Autorin

Ashley Audrain wuchs außerhalb von Toronto auf, studierte Medienwissenschaften und arbeitete viele Jahre im Bereich Public Relations unter anderem im Verlagswesen. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie in Toronto. Ihr Debütroman »Der Verdacht« begeisterte Lektorinnen und Lektoren in aller Welt; lange vor Erscheinen verkauften sich die Übersetzungsrechte in über 30 Länder.“


Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur, Gesellschaftsroman, Roman, Thriller
Subjects: Affäre, Beruf, Ehe, Familie, Freundschaft, Glück, Kinder, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, Mutterschaft, Nachbarschaft, Selbstverwirklichung, Trauer

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