„Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, zusammengesetzt aus Erinnerungen, viele davon fehlerhaft, aus Selbstüberhöhung und Selbsthass, aus Erzählungen von anderen, aus Bildern in Fotoalben.“
Wien. Sie ist die Tochter, die sich neben ihren angepassten, hübschen Schwestern stets unsichtbar fühlte. Die, die anders war – Schriftstellerin, alleinerziehende Mutter, sensibel, oft überfordert, aber immer auf der Suche nach Freiheit, nach einem Platz im Leben. Jetzt steht sie an einem Wendepunkt: Die Kinder ziehen aus, das Zuhause muss aus finanziellen Gründen aufgegeben werden, Erinnerungen müssen sortiert, ein neues Kapitel aufgeschlagen werden.
Wie ist es, wenn das Leben noch einmal von vorn beginnt – und man herausfinden muss, wer man eigentlich ist?
Doris Knechts neuer Roman ist eine intime, berührende Selbstbefragung einer Frau, die versucht, sich neu zu finden, während alles um sie herum in Bewegung gerät. Es geht um Abschied, Veränderung, Erinnerungen – und um die Frage, welche man davon behalten möchte.
Es gibt Autorinnen, deren Stimme man schon auf den ersten Seiten erkennt. Doris Knecht gehört für mich definitiv dazu. Ihre Sprache ist klar, ehrlich, direkt – und trotzdem feinfühlig. Sie schaut hin, auch dahin, wo es wehtut. Und nennt die Dinge beim Namen, ohne ihnen die Würde zu nehmen.
In ihrem neuesten Roman widmet sie sich alltäglichen Themen, die viele von uns anrühren. Es geht um Familie. Um das Muttersein. Um die Beziehung zu den eigenen Eltern, die sich nie ganz entwirrt, egal wie alt man selbst wird. Es geht um Geschwister, um Nähe und Distanz, um Erwartungen, Verletzungen – und um Versöhnung.
Was mich besonders berührt hat: Knecht erzählt all das mit einem feinen Humor, der niemals spöttisch ist, sondern menschlich. Dieses Buch hat mich zum Lächeln gebracht – und zum Innehalten.
Es regt dazu an, zurückzublicken: Wie habe ich meine Eltern, meine Familie erlebt – und wie haben sie mich erlebt? Welche Erinnerungen tragen wir mit uns herum, und was passiert, wenn wir sie in einem anderen Licht betrachten? Es ist kein Buch mit großen Dramen oder plakativen Erkenntnissen. Aber es hat Tiefe. Es schaut auf das Älterwerden mit einer Zärtlichkeit, die Mut macht.
Immer wieder spürbar ist auch der innere Konflikt der Protagonistin zwischen dem Bedürfnis zu schreiben, zu denken, sich zurückzuziehen – und dem lauten, fordernden Alltag einer Mutter, die alles gleichzeitig sein will und muss.
“Die Enge des Zimmers, aus dem es kein Entrinnen gab, vor den Bedürfnissen und Ansprüchen kleiner Kinder, mit denen man nicht verhandeln konnte über eigene Bedürfnisse, über das Recht auf ungestörte Stunden, über die Ruhe, die man zum Arbeiten braucht. Ich habe viel vergessen, verdrängt, aus der Kleinkindzeit meiner Kinder. Aber daran erinnere ich mich, und an die Permanenz des schlechten Gewissens, das sich damals in mich einfraß wie ein Parasit, den ich bis heute nicht mehr losgeworden bin.“
Allerdings – und das möchte ich auch sagen – werden manche Themen für meinen Geschmack etwas zu stark ausgereizt. Besonders die wiederkehrenden Passagen über das aus finanziellen Gründen aufzugebende Zuhause und die ausziehenden Kinder wirken mit der Zeit etwas ermüdend. Hier hätte ich mir mehr Zurückhaltung gewünscht – und vielleicht auch Platz für andere Nuancen.
Es ist für mich nicht das stärkste Buch der Autorin. Und doch hat es mir ein paar angenehme Lesestunden beschert, mich nachdenklich gemacht, zum Schmunzeln gebracht – und mir einmal mehr gezeigt, warum ich Doris Knechts Blick auf die Welt so schätze.
Fazit
Meine persönliche Bewertung: 4 Sterne. Für alle, die Lust auf ein kluges, ehrliches und unterhaltsames Buch über Familie, Frauenleben und das Älterwerden haben.
Der erste Satz
„Der Hund hat schon wieder ins Auto gekotzt.“
Buchinformationen
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“ von Doris Knecht, 2025, 240 Seiten, erschienen im dtv Verlag, Erstausgabe 2023 bei Hanser Berlin, Taschenbuch 14 Euro
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Über die Autorin
„Doris Knecht, geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin (u.a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten) und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, ›Gruber geht‹ (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen ›Besser‹ (2013), ›Wald‹ (2015), ›Alles über Beziehungen‹ (2017) und ›weg‹ (2019). Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensburger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Doris Knecht lebt mit Familie und Freunden in Wien und im Waldviertel.“
Subjects: Beruf, Ehe, Eltern, Elternbeziehung, erwachsen werden, Familie, Freundschaft, Geschwister, Gesellschaft, Glück, Kinder, Leben, Lebenswege, Liebe, Mutterschaft, Schreiben, Schriftstellerei, Selbstverwirklichung