Eine Frage der Identität: „Stiller“

„Dass ein Leben ein wirkliches Leben gewesen ist, es ist schwer zu sagen, worauf es ankommt. Ich nenne es Wirklichkeit, doch was heißt das! Sie können auch sagen: dass einer mit sich selbst identisch wird. Andernfalls ist er nie gewesen!“

Zürich/Schweiz. „Ich bin nicht Stiller!“ Mit diesen Worten setzt sich der Amerikaner James Larkin White zur Wehr, als er bei seiner Einreise in die Schweiz festgenommen wird. Dort hält man ihn für den verschollenen Schweizer Bildhauer Anatol Ludwig Stiller, der sich eines nicht ganz eindeutigen Verbrechens schuldig gemacht hat. Obwohl Freunde und Bekannte, ja sogar seine Ehefrau, ihn eindeutig als Stiller identifizieren, leugnet White beharrlich diese Identität. Wer ist dieser Stiller wirklich?

Max Frisch gehört zu meinen Lieblingsautoren. Stiller ist der Roman, der dem Schweizer Schriftsteller 1954 zum Durchbruch verhalf und der es ihm ermöglichte, sich künftig ganz dem Schreiben zu widmen. In all seinen Romanen steht im Zentrum die Frage nach der Identität des Menschen. Und das ist es, was ihren Reiz für mich ausmacht.

Ja und wer ist nun dieser Stiller? Aus seinen Aufzeichnungen aus dem Gefängnis lernen die Leser im Roman den Ich-Erzähler und seine Sicht auf diesen ominösen Stiller und dessen Welt kennen. Denn im Gefängnis erhält White Besuch von Menschen, die in Stillers Leben eine Rolle spielten. So sinniert der Ich-Erzähler über Stillers Ehefrau Julika Stiller-Tschudy und deren egozentrische und schwierige Beziehung sowie ihr Scheitern. Und wir lernen Staatsanwalt Rolf kennen, der ihm im Gefängnis zum Freund wird, sowie dessen Leben und Ehe mit seiner Frau Sibylle – bis sich die vier Lebensgeschichten zu einem großen Ganzen zusammenfügen.

„Schließlich ging es um alles, was ihr auf dieser Welt wichtig war, um Stiller, um Rolf, um Hannes, es ging um ein Leben, das noch gar nicht geboren war, um lauter Menschen, denen ihr Herz verbunden war, es ging um sie selbst, es ging darum, ob Sibylle imstande sein würde, ihr Leben selber zu wählen.“

Der Stil des Romans wirkt schwer fassbar, komplex und ungeordnet. In sieben Heften mit den Aufzeichnungen aus dem Gefängnis berichtet White in der Er-Form über diesen Stiller, in dem er nicht sich selbst erkennen kann. Durch Whites Erinnerungen an die Erzählungen und Begegnungen mit Julika, Rolf und Sibylle erhalten die Leser zudem einen Blick auf deren Leben und ihr Verhältnis zu Stiller. Und so kommt es, dass wir Stiller eigentlich immer nur aus der Perspektive Dritter kennenlernen. Staatsanwalt Rolf bringt schließlich in einem Nachwort etwas Ordnung ins Chaos.

In dem Roman wirft Frisch viele der Themen auf, die sein Leben und sein Wirken durchziehen. Das sind in erster Linie seine kritische Sicht auf das Konstrukt der Ehe, seine Überlegungen zu offenen Beziehungen, das Thema Schuld und natürlich die Frage, wer man eigentlich ist und wer man sein möchte.

Dabei treffen wir auch auf Randfiguren, wie Whites Wärter Knobel, den er mit wilden und todesreichen Geschichten aus seinem Leben unterhält oder seinen Rechtsanwalt Dr. Bohnenblust, der ihn dazu bringen möchte, sich zu seiner Identität zu bekennen. Frisch fechtet in seinen Werken zudem immer auch einen Kampf mit seinem Heimatland, der Schweiz, aus, zu der er ein zwiegespaltenes Verhältnis hat, das sich in Zitaten wie „Alles in diesem Land hat eine beklemmende Hinlänglichkeit“ äußert.

„Sie selber […) nennen es Mäßigung, was mir auf die Nerven geht; überhaupt haben sie allerlei Wörter, um sich damit abzufinden, dass ihnen jede Größe fehlt. Ob es gut ist, dass sie sich damit abfinden, weiß ich nicht. Verzicht auf das Wagnis, einmal zur Gewöhnung geworden, bedeutet im geistigen Bezirk ja immer den Tod.“

Wie auch schon in Montauk reflektiert Frisch am Rande die Schriftstellerei, hinterfragt, ob man eigentlich schreiben kann, ohne eine Rolle zu spielen. Und seine Gedanken bezüglich unserer Art zu leben und unserem Planeten sind, obwohl Frisch seinen Roman bereits 1953/54 geschrieben hat, heute aktueller denn je.

„[…] all dies sehe ich mit offenen Augen, wenn ich es auch nie werde schildern können, traumlos und wach und wie jedesmal, wenn ich es sehe, betroffen von der Unwahrscheinlichkeit unseres Daseins. Wieviel Wüste es gibt auf diesem Gestirn, dessen Gäste wir sind, ich habe es nie vorher gewusst, nur gelesen; nie erfahren, wie sehr doch alles, wovon wir leben, Geschenk einer schmalen Oase ist, unwahrscheinlich wie die Gnade.“

Frisch stimmt in seinem Werk so viele Themen an und es gibt so viele wundervolle Zitate, dass mir eine Auswahl schwer fällt.

Letztlich aber ist Stiller in erster Linie die Reflektion zweier Ehen und die Reflexion der Liebe, in der keiner weiß wer er selbst eigentlich ist und keiner den anderen richtig wahrzunehmen vermag. Es ist das Resümee eines Lebens und seiner Scheidepunkte, das der Autor als „ein einziges Versäumnis“ beschreibt.

Wer sich mit dem vielschichtigen und diffusen Stil von Max Frisch anfreunden kann, dem kann ich „Stiller“ nur wärmstens ans Herz legen. Ich bin und bleibe jedenfalls ein Fan.

„Wäre ich dir mit dem Gefühl begegnet, ein voller und richtiger Mann zu sein – ich hätte dich schon längst verlassen, Julika, vermutlich schon nach unserem ersten Kuss, und diese ganze jämmerliche Ehe wäre uns beiden erspart geblieben. Das ist das Bittere, siehst du; wir hätten es wissen können, dass es nicht gehen wird. Und es fehlte nicht an Signalen auf der ganzen Strecke, nur an Mut sie zu sehen. Heute weiß ich es: im Grunde habe ich dich wahrscheinlich nie geliebt […]“

Der erste Absatz

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre es und fordere Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin, so werde ich nicht aufhören, nach Whisky zu schreien, sooft sich jemand meiner Zelle nähert.“

Buchinformationen

Stiller von Max Frisch, Taschenbuch, 1973, 448 Seiten, erschienen in der Suhrkamp Verlag AG 10,00 Euro. Hardcover erschienen 1954.

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Über den Autor

Max Frisch (1911-1991), einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, konnte nicht nur mit dem Wort etwas erschaffen: Er arbeitete auch erfolgreich als Architekt. Über journalistische Arbeiten und erste literarische Versuche fand er schließlich seinen eigenen Stil als Autor. In seinen Essays, Erzählungen, Hörspielen, Dramen und Romanen war er nicht nur ein großer Literat, sondern auch ein streitbarer Humanist. Sein kritischer Geist rieb sich an seiner Schweizer Heimat ebenso wie an Demagogen in aller Welt – um doch anlässlich seines 75. Geburtstags ernüchtert festzustellen: „Am Ende der Aufklärung steht das goldene Kalb.“ Bekannt wurde er u. a. mit den Romanen „Stiller“, „Homo Faber“ und „Mein Name sei Gantenbein“ sowie Theaterstücken wie „Andorra“ und „Triptychon“.“


Genre: Belletristik, Erzählung, Klassiker, Roman
Subjects: Affäre, Architektur, Ehe, Einsamkeit, Freundschaft, Gesellschaft, Glück, Heimat, Leben, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, Schicksal, Schreiben, Schweiz, Selbstverwirklichung, Tod, USA, Verlust

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