„Stumm und starr vor Angst hockt sie in ihrem Drehstuhl, als hätte die Ohrfeige sie betäubt. {…} Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf? Frau Schulz?“
Karim kommt aus dem Irak – und er ist stinksauer. Er hat seiner Sachbearbeiterin Frau Schulz in der Ausländerbehörde etwas mitzuteilen. Doch wie so oft will sie ihm nicht richtig zuhören. Um sich Gehör zu verschaffen, verpasst Karim Frau Schulz eine Ohrfeige, fesselt sie an ihren Stuhl – und erzählt ihr seine Geschichte…
In „Ohrfeige“ setzt sich Autor Abbas Khider mit der Situation junger Asylbewerber in Deutschland am Anfang des neuen Jahrtausends auseinander. Als der junge Iraker diesen Roman vor vier Jahren begonnen hat, konnte er noch nicht ahnen, welche Brisanz er bei seiner Veröffentlichung haben wird. Wie ergeht es jungen Asylsuchenden, wenn sie in ihrer neuen „Heimat“ ankommen? Wie fühlen sie sich? Mit welchen Hürden haben sie zu kämpfen? Was erleben sie in den Mühlen deutscher Behörden? Und welche Zukunftsaussichten haben sie?
Aus der Sicht des jungen Irakers Karim erleben die Leser verschiedene Stufen des Asylverfahrens und die Odysee, die Flüchtlinge erleben bis sie hier eine dauerhafte Heimat finden – oder eben auch nicht. Während seiner verschiedenen Stationen in Bayern kreuzen zahlreiche Flüchtlinge Karims Weg – jeder mit seiner eigenen Geschichte. Mehr oder weniger gemeinsam versuchen sie Erlebtes hinter sich zu lassen, sich auf ihr neues Leben in diesem fremden Land einzulassen – und den Alltag und die Hürden der Bürokratie zu meistern. Aber das ist leichter gesagt als getan – wenn einen die deutsche Bürokratie zum Nichtstun verdammt. Kein Sprachkurs, keine Arbeit, keine Wohnung.
„Im Exil entstehen so viele seltsame Probleme und Rätsel, auf die man als normaler Mensch nie kommen würde. Schwierigkeiten aller Art brechen so plötzlich und unerwartet wie Naturkatastrophen über einen herein. Wir sind komplett ausgeliefert. Um zu überleben und nicht vollständig wahnsinnig zu werden, brauchen wir die Vermittler, die Mafiosi, die Geldgeilen, die Schmuggler, die bestechlichen Polizisten und Beamten, wir benötigen all die Blutegel, die von unserer Situation profitieren wollen.“
Die Leser tauchen ein in eine beeindruckende Geschichte aus Hoffnung, Verzweiflung, Ausgrenzung, Bürokratie und endlosem Warten und Bangen. Dennoch verliert Karim nicht seinen Humor – und das wirre soziale Gefüge und die vielen, zum Teil skurrilen, Charaktere im Asylbewerberheim lassen einen auch immer wieder schmunzeln. Man fragt sich unweigerlich, wie viel von dem Roman der Autor wirklich erlebt haben könnte. Allerdings fragt man sich ebenfalls unweigerlich, ob Khider tatsächlich das deutsche System so erlebt hat wie im Buch beschrieben. Mir erscheinen Khiders Beschreibungen Deutschlands oft so stereotypisch. Polizisten sind grausam, rassistisch und voreingenommen und Beamten sind bürokratisch, gefühl- und anteilnahmslos. Es ist wohl leider nicht ganz unwahrscheinlich. Ich hoffe aber sehr, dass Abbas Khider hier absichtlich eine sehr überzogene Darstellung gewählt hat.
„Den irakischen Behördenapparat habe ich beizeiten hassen gelernt, weil er so chaotisch und bürokratisch ist wie eine göttliche Strafe, die keine Gnade kennt. Nun aber gab mir die stumpfsinnige entseelte deutsche Verwaltung wirklich den Rest. Ich war schon nach wenigen Minuten des Nachdenkens erschöpft von all den Stolpersteinen, die ich umgehen musste, und versuchte an einer Lebensgeschichte zu basteln, die das Gesetz anerkennen würde.“
Der Schreibstil des Autors hat mir sehr gefallen – flüssig, knapp, kurzweilig und leicht satirisch. Der Autor verwendet für seine Geschichte überwiegend einfache Worte, aber sie ist komplexer als sie beim ersten Durchlesen erscheint. Sie erzählt vom Leben und von den Träumen junger Männer, die in der Fremde zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit schwanken, zwischen Humor und Aggression, zwischen Rückhalt und Verzweiflung. Bewusst lässt der Khider die Deutschen nicht zu Wort kommen in seinem Roman. Er soll die Augen öffnen für die Sicht der Asylsuchenden – und das gelingt ihm ganz hervorragend. Die ewig gleichen Gesichter im Asylantenheim, der Wunsch nach Kontakt zu Einheimischen, die verzweifelte Suche nach Abwechslung, die Sprachprobleme, die fehlende Zukunftsperspektive.
„Andere, normale Bürger waren wie Fabelwesen aus einem fernen Märchenland für uns, die wir bei unseren Streifzügen durch die Stadt beobachten konnten oder durch den Zaun hindurch sahen, der das Asylantenheim umgab. Hellhäutige Menschen aller Art, vermummt in dicke, warme und schöne Kleidung, die sehr gepflegt aussahen. Saubere Kinder, hübsche Mütter, stolze Väter.“
Ganz bewusst spielt Abbas Khider auch mit den Asylgründen. Denn Karim ist gar kein politisch Verfolgter. Er ist aus ganz anderen Gründen aus seinem Land geflüchtet. Doch mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Die Geschichte findet ihren Ausklang in den Zeiten nach dem 11. September 2001.
„Nach diesem verdammten Tag wurde der wichtigste Ausdruck für uns Araber in Deutschland: verdächtig. Ich hätte niemals gedacht, dass Terroristen, die sich in den Bergen des Hindukusch in Afghanistan versteckt hielten, mit ihren Anschlägen in den USA mein Leben im bayrischen Niederhofen komplett auf den Kopf stellen könnten. Aber auch das ist wohl Globalisierung.“
Schade, ich wäre sehr gerne zur Autorenlesung gegangen, als der Autor im Literaturhaus in Köln war – und hätte Abbas Khider einige Fragen zu seinem Werk gestellt. Leider konnte ich an dem Tag nicht. Dafür habe ich aber einen Artikel im Feuilleton der FAZ gelesen, in dem Julia Encke ein interessantes Interview mit dem Autor geführt hat – über das Buch, Khiders eigene Erlebnisse und wie er zum Thema Flüchtlingsproblematik steht.
Ich kann den Roman empfehlen und finde ihn sehr lesenswert.
„Wir sind alle wie die geschmacklosen und billigen Produkte aus dem Ausland, die man bei Aldi und Lidl finden kann. Wir werden mit dem Lastwagen hierhergeschleppt wie Bananen oder Rinder, werden aufgestellt, sortiert, aufgeteilt und billig verkauft. Was übrig bleibt, kommt in den Müll.“
Buchinformationen
Ohrfeige von Abbas Khider, erschienen im Februar 2016, Hanser Verlag im Carl Hanser Verlag, 224 Seiten. 19,90 Euro.
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Über den Autor
Abbas Khider wurde 1973 in Bagdad geboren und mit 19 Jahren wegen seiner politischen Einstellung verhaftet. Nach seiner Entlassung floh er 1996 aus seinem Heimatland und hielt sich als illegaler Flüchtling in verschiedenen Ländern auf, bevor er 2000 seine Heimat in Deutschland fand. Hier studierte er Literatur und Philosophie. „Ohrfeige“ ist bereits der vierte Roman des jungen Irakers. 2008 erschien sein Debütroman „Der falsche Inder“. Seine Romane verfasst der Autor nicht in seiner Muttersprache, sondern in Deutsch. Er wurde bereits mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nelly-Sachs-Preis und dem Hilde-Domen-Preis. Abbas Khider lebt und arbeitet in Berlin.
Subjects: Asyl, Bayern, Bürokratie, Deutschland, Flucht, Flüchtlinge, Gesellschaft, Hoffnung, Krieg, Schicksal, Verzweiflung