5 Bücher - Wer macht das Rennen bei der Suche nach dem besten Romandebüt 2017?

5 Bücher – Wer macht das Rennen bei der Suche nach dem besten Romandebüt 2017?

Es ist vollbracht. Fünf Bücher sind gelesen und obwohl ich nach dem ersten Eindruck dachte, die Wahl um das beste Romandebüt des Jahres 2017 würde mir leicht fallen, tue ich mich nun doch recht schwer damit meine Punkte zu vergeben. Es gibt einen ganz klaren Favoriten, der mit seinem Romandebüt meinen persönlichen Lesegeschmack am besten getroffen hat. Aber ist es auch tatsächlich das beste Buch? Nach welchen Kriterien vergebe ich meine Punkte? Nach meinem persönlichen Geschmack oder nach objektiven höheren Maßstäben?

Aber erstmal auf Anfang. Fünf Bücher haben es auf die Shortlist von „Das Debüt“ zur Suche nach dem besten Romandebüt des Jahres 2017 geschafft. Ich kannte bis dato keines davon und war daher umso gespannter auf die Auswahl, die die Jurorinnen Bozena Anna Badura, Janine Hasse und Sarah Jäger unter 64 eingereichten Titeln getroffen hatten. Und ich muss sagen: die Auswahl hat mich vor einige Herausforderungen gestellt. Ich habe gekämpft, gelitten und geliebt – und bin daran gewachsen. Literarisch gesehen . Denn eines ist klar: es handelt sich bei den meisten der Bücher nicht gerade um Werke, die man mal eben so weg schmökert. Insgesamt sind die Bücher recht düster und teilweise schwere Kost. Es waren sogar Bücher dabei, die ich wahrscheinlich abgebrochen hätte, wenn ich mich nicht dazu verpflichtet hätte, eine Wertung darüber abzugeben. Ich fände es einfach nicht richtig, eine Wertung über ein Buch abzugeben, das ich nur halb gelesen habe. Ich bin froh und stolz, mich durchgekämpft zu haben und muss nun, nachdem alle Seiten gelesen sind, tatsächlich sagen, dass mich gerade das Buch, das mich zum Aufgeben bewogen hat, mich im Nachhinein sehr berührt hat und es mir unheimlich schwer macht, zu einer Wertung zu gelangen.

Wie schreibt mein Jurykollege Marc von Lesen macht glücklich so schön? Beim Debüt geht es nicht nur darum, es sich im Lesesessel bequem zu machen und sich an den Geschichten zu berauschen, sondern es geht auch darum, sich an Geschichten zu reiben, sich schockieren zu lassen und an der Literatur und der Sprache zu wachsen.

Bei der Frage, worauf ich bei der Auswahl von „Das Debüt 2017“ achte, habe ich damals geantwortet:

„Geschichten und Charaktere, die mich berühren und Spuren in mir hinterlassen. Geschichten, die nachklingen – auch noch nachdem die letzte Seite gelesen ist. „Das Debüt 2017“ muss mich packen – und das kann ihm auf ganz unterschiedliche Weise gelingen. Es kann meinen Horizont erweitern, mir fremde Welten näherbringen und mich dazu bringen, mich für ein Thema zu interessieren, über das ich bislang nichts oder zu wenig wusste. Es kann mich unterhalten, zum Lachen bringen oder zum Weinen, es kann mich zweifeln lassen oder mir Hoffnung geben. Es kann mich mit den Abgründen der Menschheit bekannt machen und mit ihren Höhen. Und im besten Fall bringt mich „Das Debüt 2017″ dazu, mich mit dem Leben, unterschiedlichen Sichtweisen und Gefühlswelten auseinander zu setzen… Vielleicht packt mich mein Favorit auch auf ganz ungeahnte Weise. Ich freue mich darauf, mich von den Debütantinnen und Debütanten überraschen zu lassen!“

All das versuche ich in meine Bewertungen einfließen zu lassen und hoffe, sie nachvollziehbar darzulegen. Die genauen Bewertungen meiner Jurykollegen zu den einzelnen Büchern habe ich bewusst im Laufe des Leseprozesses nicht gelesen um mich nicht von anderen Meinungen beeinflussen zu lassen. Ich bin sehr gespannt, in wie weit unsere Leseerfahrungen überein stimmen und wo sie vielleicht völlig unterschiedlich ausfallen.

Ich spanne euch nicht länger auf die Folter und gebe euch meinen Eindruck wieder in der Reihenfolge, in der ich die Bücher gelesen habe.

Julia Weber – Immer ist alles schön

Hier ist es, das Buch das mich ins Wanken bringt. Julia Webers Debütroman „Immer ist alles schön“, erschienen im Limmat Verlag, hat mich äußerlich am meisten angesprochen – im Leineneinband und Prägedruck kommt es wunderschön daher und fühlt sich toll an. Da mich auch der Titel wahnsinnig angesprochen hat und ich schon ahnte, dass in dieser Geschichte bestimmt nicht alles schön sein wird, habe ich mich dazu entschieden, mit diesem Buch in meine Shortlist Erfahrung zu starten. Sprachlich gesehen hat mich Julia Weber allerdings vor große Herausforderungen gestellt. Die Sprache ist sehr poetisch und entrückt, geradezu lyrisch, ohne direkte Rede – und anfangs habe ich mich damit sehr schwer getan. So schwer, dass ich das Buch unterbrechen musste und erst weitergelesen habe, nachdem ich mit den anderen vier Büchern durch war. Und dann, plötzlich, war ich drin in der Geschichte, ließ mich von ihr gefangen nehmen und mir wurde klar: gerade der Kontrast der lyrischen Sprache zur brutalen Realität der Protagonisten ließ mich diese schreckliche Realität an manchen Stellen umso deutlicher fühlen.

Tatsächlich ist es alles andere als schön, welche Welt Julia Weber in ihrem Roman zeichnet, auch wenn die Protagonisten es sich immer wieder einzureden versuchen. Es ist die Welt von Anais und ihrem Bruder Bruno, die alleine mit einer vom Leben überforderten Mutter aufwachsen. Einer Mutter, die ihre Kinder liebt und es ihnen ’schön machen‘ will – und doch unglücklich ist, dass das Leben ihr selbst nicht mehr Möglichkeiten bietet. Und die sich deswegen in Alkohol und Liebschaften flüchtet – und ihre Kinder immer mehr vernachlässigt.

„Also, sagt Mutter, also, ich bin sehr müde. Ich bin sehr müde, weil ich viel nachdenke, wenn ich viel nachdenke, dann werde ich müde. Ich denke viel nach, wenn es mir langweilig ist. Also, mir ist es langweilig, weil wir schon so lange hier sind und weil sich die Tage gleichen, ein Tag ist wie der andere, aber ich weiß nicht, was ich noch tun kann, es fällt mir nichts mehr ein, weil ich bereits zu müde bin.“

Julia Weber schreibt dabei abwechselnd aus der Perspektive von Anais und ihrer Mutter. Der Blick der Kinder auf das eigene Leben und der Zwiespalt zwischen den kindlichen Bedürfnissen und denen der Mutter beeindruckt und verstört und bringt den Leser sehr zum grübeln. Sehr gut ist der Autorin dabei die Gefühlswelt der Mutter gelungen, ihr innerer Kampf zwischen Verantwortung und Mutterliebe und einer missglückten Selbstverwirklichung.

„Du hast mich angeschaut, wenn ich sagte, dass nicht nur du mich brauchst, sondern auch ich dich. Du hast mich angeschaut und deine dicken Fingerchen nach mir ausgestreckt, wenn ich sagte, dass mich diese Liebe zu dir manchmal erdrückt. Es kann passieren, dass dieses Glück in Angst kippt. Wenn dir etwas passiert, sagte ich zu dir, und habe deine Fingerchen gehalten, wenn dir etwas passiert, dann gibt es mich nicht mehr. Es gibt in mir, sagte ich, den Versuch der Vorstellung von dem, was wäre, gäbe es dich nicht, und diese Vorstellung ist eine Unmöglichkeit, es gibt diese Vorstellung nicht, es gibt nur die Möglichkeit, dass es dich nicht gibt, und dann gäbe es auch mich nicht mehr.“

Die Mutter wird zunehmend müde, zieht sich in sich selbst zurück. Nur in ihrer Phantasie schafft sie es, die Mutter zu sein, die sie eigentlich sein möchte.

„Ich würde dein feines Gesicht sehen. Es wäre gut, weil ich nicht mehr stinken würde, weil du mich nicht hassen würdest. Es wäre gut, weil ich da wäre, weil wir zusammen da wären, weil es keinen Wein mehr geben würde, keine laute Stille, wie du es nennst, die Stille, in der das Unausgesprochene laut ist. Es wäre gut, weil wir zusammen da wären. Du, Bruno und ich. Du wärst stark, und Bruno wäre nicht mehr bleich.“

Die Kinder, mal mehr, mal weniger und schließlich ganz sich selbst überlassen, versuchen die Mutter zu schützen und die Familie zusammen zu halten – und ziehen sich dabei immer mehr in eine Traumwelt zurück. Anais erschafft für sich und ihren Bruder eine eigene Welt, innerhalb der Sicherheit ihrer vier Wände.

„Mutter ist weg, und unser Zimmer wird ein Gebirge sein. Wir tragen die Steine, tragen sie immer weiter hinauf und immer weiter ins Gebirge hinein. Wir türmen die Felsen auf, Stein auf Stein auf Stein, auf Stein, auf Stein. Wir schreien, wir hören unsere Schreie zwischen den Felsen hängen. Auf den Spitzen der Berge liegt kalt der Schnee, und dort ist ein ewiger Winter. Wir machen die Badewanne zum Ozean, legen tausend Steine an seinen Grund. […] Wir schütten Salz in die Badewanne, legen Krebse an die Küste. Dann holen wir den Wald in Mutters Zimmer. Wir erschaffen einen Wald, legen die Stämme hinein, die Blätter der Birken berühren die Decke, die Insekten surren gegen das Licht, fliegen gegen die Scheibe. Die Vögel verstecken sich in den Büschen, die wir vor dem Schrank auftürmen. Die Schnecken legen wir ins Gold, Spinnen laufen in die Zimmerecken, Wurzeln riechen nach dem Inneren der Welt. Wir zeichnen tausend Blätter dazu. Um Mutters Schlaf zu schützen, sagt Bruno, wenn sie wieder da ist, damit Mutter einen ruhigen Schlaf hat.“

Doch bei all der poetischen Sicht auf die Welt, besonders in den Augen der Kinder, habe ich doch an einigen Stellen ein wenig Realitätsnähe vermisst. Julia Weber hat in einem Interview erklärt, der Roman definiert sich in erster Linie über die Sprache. Es kommt mir doch ein wenig so vor, als sei diese stellenweise künstlich aufgebauscht worden, um poetisch und anspruchsvoll zu sein.

Alles in allem ist Julia Webers Debütroman nicht gerade ein leichter Lesegenuss, da er einen sowohl sprachlich als auch inhaltlich sehr fordert und eine beklemmende Stimmung auslöst. Aber wenn man sich auf die Sprache eingelassen hat, wird man mit einem sehr lesenswerten Roman und großartigen Textpassagen belohnt. Ich denke, es war auch nicht die Intention der Autorin einen Roman zu schreiben, der sich gut weglesen lässt, sondern einen Roman der aufrüttelt. Ich denke, dass ist ihr mehr als gelungen.

Christian Bangel – Oder Florida

Christian Bangel ist mit seinem Debütroman „Oder Florida“, erschienen im Piper Verlag, ein Buch gelungen, dass gehaltvoll ist und sich trotzdem gut weg schmökern lässt. Es liest sich leicht, die Sprache ist einfach gehalten. Die Geschichte spielt 1998 in Frankfurt (Oder). Der zwanzigjährige Matthias Freier, eigentlich aber von allen nur Freier genannt, erlebt den wildesten Sommer seines Lebens. Erst taucht seine verlorene Liebe wieder auf, dann verliert er sie wieder. Ständig hat er Ärger mit den Nazis. Und sein verrückter Freund Fliege, mit dem er ein linkes Stadtmagazin betreibt, fasst mit der Forderung von besserem Wetter in Frankfurt revolutionäre politische Pläne – und befördert Freier zum Pressesprecher seines Wahlkampfbüros. Was so ein Pressesprecher eigentlich tut, davon hat Freier keine Ahnung. Aber egal, endlich ist sein Leben voller Möglichkeiten.

Auf den ersten Blick ist „Oder Florida“ ein Buch über einen orientierungslosen jungen „Ossi“, der in der linken Szene verhaftet ist und dessen Kontakte dort zweifellos für zahlreiche Schmunzler beim Lesen sorgen. Auf den zweiten Blick spielt das Buch gerade dadurch mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Ost und West. Es wirft einen Blick auf die unschönen Seiten der deutschen Wiedervereinigung, dass Unternehmen verschachert und Menschen arbeitslos wurden, in den Westen pendeln oder unter ihrer Qualifikation schuften mussten. Dass Familien zerrissen wurden und die rechte Szene die Straßen unsicher machte, dass es Unterschiede gibt zwischen Berlin und dem restlichen Osten. Und das die Mauer in den Köpfen und Vorurteile zwischen „Ossis“ und „Wessis“ nach wie vor präsent sind.

„Dass dann ausgerechnet Berlin der Ort der Wende wurde, passte irgendwie überhaupt nicht. Ausgerechnet Berlin. Papa hatte mich früh um vier geweckt, als würden wir an die Ostsee fahren. Auf der Autobahn war alles voller Wahnsinniger. Und als die Sonne aufging, standen am Grenzübergang Wollankstraße echte Amerikaner mit Mikrofonen und Kameras, die uns anvisierten. Es muss in irgendeinem Archiv in Amerika eine Aufnahme von mir im blauen Anorak geben, wie ich sekundenlang wortlos in eine Kamera schaue.
Aber was in den Archiven und auch sonst kaum vorkommt, ist, wie beschissen es danach wurde. Es war wie in einem Hollywoodfilm: Niemand will etwas über die Zeit nach der Kussszene wissen. Die Geschichte der zwei Länder, die sich friedlich und fröhlich wiedervereinten, war einfach zu gut, um sie zu versauen.
Nur in Berlin schien die Laune besser zu sein.“

Christian Bangels Roman habe ich wirklich gern gelesen. Er schreibt lustig und sehr unterhaltsam, gleichzeitig aber gefühlvoll. Stilistisch gesehen bietet das Buch nicht viel Neues. Doch trotz der Unterhaltsamkeit und einfachen Sprache, ist Bangel mit „Oder Florida“ ein politisches Buch gelungen, das mir sehr gefallen hat und das ich wärmstens empfehlen kann.

Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

Klaus Cäsar Zehrers „Das Genie“ aus dem Diogenes Verlag war das Buch, das mich vom Klappentext her am meisten angesprochen hat. Und es ist auch tatsächlich das Buch, dass meinen persönlichen Lesegeschmack am besten getroffen hat. Es geht darin um die unglaubliche, aber wahre Lebensgeschichte von William James Sidis, der als „Wunderjunge von Harvard“ bekannt wurde und als der intelligenteste Mensch der Welt galt. Um die Geschichte von William verstehen zu können, muss man zuerst seinen Vater kennen und verstehen lernen, Boris Sidis, der seinen Sohn als Experiment sah und ihn durch ein frühzeitiges spezielles Lernprogramm zum Genie erziehen wollte.

Und so startet der Roman auch mit dem hoch intelligenten Boris Sidis, der 1887 völlig mittellos in die USA auswandert. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeitet nur wenn es nötig ist und widmet seine gesamte Freizeit dem Selbststudium. Er giert nach Wissen und verbringt jede freie Minute in Bibliotheken oder mit Büchern in seiner Kammer. Denn er ist sich sicher: nur durch Bildung kann die Welt eine Bessere werden. Boris saugt Wissen in sich ein, spricht zehn Sprachen fließend und schafft es schließlich dank seiner enormen Intelligenz nach Harvard. Seine Frau Sarah stammt ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen und Bildung war für sie der einzige Weg ihrem Schicksal zu entrinnen. Ehrgeiz und Zielstrebigkeit einen die beiden, wenn man auch nicht wirklich von Liebe sprechen kann. Dank Boris Unterstützung wird Sarah die erste weibliche Absolventin eines Medizinstudienganges an der Boston University School of Medicine. Boris selbst wird ein angesehener Psychologe und stellt sein Leben – und schließlich auch seinen Sohn – ganz in den Dienst der Wissenschaft. Denn als William geboren wird, entschließt sich sein Vater, mit einem speziellen Lernprogramm seine geistigen Fähigkeiten zu trainieren. Seine Frau unterstützt ihn dabei. Und sie scheinen Erfolg zu haben, denn William wird mit 11 Jahren der jüngste Harvard Student aller Zeiten. Boris ist überzeugt davon, dass mit der „Sidis-Methode“ jedes Kind zum Genie geformt werden kann. Doch als William erwachsen wird, weigert er sich, die Erwartungen seiner Eltern und der Gesellschaft zu erfüllen. Er hinterfragt das Leitmotiv seines Vaters ob Bildung wirklich zu einer besseren Welt und einem besseren Leben verhilft, oder ob nicht die Wissenschaft eher eine Gefahr für die Menschheit sei. Und er stellt sich die Frage, was ein glückliches Leben eigentlich ausmacht.

„So waren ja die meisten Leute. Sie waren mit ihren Berufen und ihren Familien ausgefüllt, so wie ein Huhn damit ausgefüllt war, nach Würmern zu picken und Eier zu legen. War das das Geheimnis des glücklichen Lebens? Oder nur Einfalt? Oder beides, weil Einfalt die Voraussetzung des glücklichen Lebens war? Und wenn dem so sein sollte: War dann das Glück für ihn, William, unerreichbar geworden? Einfalt war ja nichts, was man lernen konnte, man musste sie sich herüberretten aus der Kindheit.“

William versucht, sein Leben nach seinen eigenen Regeln und Vorstellungen zu gestalten – und lebt es mit aller Konsequenz. Durch seine Erziehung war William zwar hyperintelligent geworden, gerät aber immer wieder in Schwierigkeiten mit seinen Mitmenschen, da die Sozialisierung mit Anderen im Erziehungsprogramm keine große Rolle gespielt hat.

„William war froh, zurück zu sein in der Welt der Zahlen. Unter Menschen fühlte er sich immer etwas unsicher. Ihre Unberechenbarkeit war ihm nicht geheuer. Nie sah er voraus, was sie als Nächstes taten. Zahlen waren ganz anders. Mit ihnen verstand er sich blind, sie täuchten und enttäuschten ihn nie. Eine Sieben war immer eine Sieben und entpuppte sich niemals hinterrücks als falsche Fünf. Das wusste er sehr zu schätzen.“

Das Buch ist mit 645 Seiten der seitenstärkste Titel der Shortlist. Aber ich habe es in zwei Tagen weg gelesen und fand es großartig. Auch hier ist stilistisch nichts neues zu entdecken. An einigen Stellen ist es vielleicht auch etwas langatmig, aber mich hat die traurige Geschichte des William James Sidis fasziniert und bewegt. Klaus Cäsar Zehrer ist ein sehr unterhaltsamer, tragi-komischer Roman über einen sehr sehr außergewöhnlichen Menschen gelungen. Es ist ein Buch über Chancen und Risiken von Früherziehung, über Fluch und Segen hoher Intelligenz und die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen. Großartig fand ich auch, dass das Buch ein tolles Panorama des 20. Jahrhunderts zeichnet: wie Leben und Arbeiten sich verändert haben, wie sich die Erforschung geistiger Krankheiten, Psychologie und Psychoanalyse entwickelt haben und die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in den USA. Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen, wie so oft die Bücher aus dem Diogenes Verlag.

„Wenn gezielt versucht wird, den Charakter und Willen eines Menschen zu brechen, nur damit er die Erwartungen der Außenwelt erfüllt, wenn er systematisch verbogen werden soll zu einem Wesen, das seinem innersten Selbst entfremdet ist, dann ist das Folter auf psychischer Ebene.“

Jovana Reisinger – Still halten

Wieder ein Roman, den man lieben oder hassen kann. Jedenfalls ist es keine leichte Kost, die uns die Filmemacherin Jovana Reisinger mit ihrem Debütroman „Still halten“ präsentiert, erschienen im Verbrecher Verlag. Sprachlich sehr anspruchsvoll, muss man sich durch einige Passagen regelrecht kämpfen – und wird mit großartigen Textpassagen belohnt, wenn man sich auf den Stil und das Thema einlassen kann. Das ist jedoch gar nicht so leicht.

Es geht um die Geschichte einer jungen Frau irgendwo in Österreich, die von ihrem Arzt für ein Jahr krankgeschrieben wird. Die Diagnose bleibt, ebenso wie der Name der Frau, im Unklaren. Am wahrscheinlichsten halte ich eine Depression. Immer wieder wechselt die Autorin zwischen der dritten und ersten Person Singular und erzählt dabei die Geschichte einer Frau mit Identitätsproblemen. Sie ist Frau, Ehefrau und Tochter – und scheint mit jeder ihrer Rollen Probleme zu haben. Zum einen erzählt der Roman von der Ehe dieser Frau, in der sie nur für ihren Mann und seine Bedürfnisse lebt und sich auch nur darüber zu identifizieren vermag. Doch der Mann scheint nie anwesend zu sein, kümmert sich um seine Karriere und überlässt die Frau sich selbst und ihrer Krankheit.

„Schade, der Mann und ich haben sehr gut zusammengepasst. Sei es drum. […] Das Böse ist schon in mich gekrochen, und das Böse muss wieder raus. Deshalb wurde ich zuhause abgestellt wie ein Haushaltsgegenstand, der zu speziell ist, als dass man ihn täglich benutzen könnte. Zu kompliziert zu reinigen. Zu laut in seiner Bedienung. Ich dachte, der Mann kann helfen, aber der Mann lebt sein eigenes Leben.“

Der Roman erzählt auch von der gestörten Beziehung der Frau zu ihrer Mutter, die im Sterben liegt und einer problematischen Kindheit, die sich einfach nicht abschütteln lässt, auch nicht nach dem Tod der Mutter.

„Wo eine Tochter, da auch eine Mutter. Man wird sich zweifellos finden. Wenn man so eng verbunden ist, findet man sich doch immer. Die Enge, das ist es doch, was das Mutter-Tochter-Band ausmacht. Wie eine natürliche Schlinge, die mal lockerer, mal enger um den eigenen Hals hängt.“

Von ihrer Mutter erbt die Frau den idyllischen Familienlandsitz am Waldrand und – nach einer grausigen und verstörenden Szene im Krankenhaus, die ich hier nicht näher erläutern möchte, zieht sie dorthin, in der Hoffnung, ihre Dämonen aus der Vergangenheit verjagen zu können. Doch immer mehr fühlt sie sich von der Natur bedroht und fechtet sowohl mit sich als auch mit ihrer Umwelt einen gnadenlosen Kampf aus. Lange Zeit ist es nicht klar, wer dabei gewinnen wird und so bleibt das Buch anstrengend, aber auch spannend bis zur letzten Seite. Ein Buch für Menschen, die sich in eine depressive Frau hinein versetzen und stilistisch mal etwas Neues ausprobieren möchten.

Am besten beschreibt die junge Frau meines Erachtens folgende Zitat:

„Ich kann mich ja an nahezu alles schnell gewöhnen, das ist das Schöne an jemandem wie mir. Ich bin niemals ich. Ich kann mich super anpassen. Das ist ja das Schöne an Frauen wie mir, wir haben diese vielgelobte Flexiblität. Heute noch Arbeiterin, morgen schon Hausfrau. Heute noch kultivierte Städterin und dann eben doch ein einfaches, ruhiges Leben in der Provinz. Das ist das Gute an Frauen wie mir, wir können alles sein, alles was wir wollen und vor allem aber alles, was andere von uns wollen. Mit Frauen wie mir wird man glücklich. Da hat mein Mann aber Glück gehabt, dass er mich erwischt hat. Ich bin formbar.!“

Juliana Kálnay – Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens

Tja, was sage ich nur zu diesem Buch?! Juliana Kálnay hat für ihren Roman „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“, erschienen im Wagenbach Verlag, nicht nur einen Titel gewählt, der recht speziell ist. Auch die Erzählweise ist es. Kálnay erzählt die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner. Eigentlich ist es nicht eine Geschichte, sondern es sind viele kleine Geschichten und viele kleine Einblicke in das Leben der Bewohner dieses Hauses mit der Nummer 29 im Laufe der Jahre. Dabei entsteht eine Art literarisches Puzzle. Diese Idee finde ich an sich grandios, jedoch bleibt mir leider das Motiv der Autorin zu sehr im Unklaren. Was genau möchte sie uns mit ihrem Mosaik sagen? Das ist mir nach wie vor schleierhaft.

Die Geschichten des Romans sind alles andere als realitätsnah, die Autorin erfindet ein abstruses Sammelsurium an Hausbewohnern. Manche mögen das Buch poetisch oder magisch finden, mir persönlich war es einfach zu konfus. Ich habe nichts gegen Fantastik, doch leider war mir überhaupt nicht ersichtlich, was ich aus diesen Geschichten lernen soll oder auf was sie mich aufmerksam machen möchten. Da wird ein Mann zum Baum und lebt fortan auf dem Balkon, wo er von seiner Frau gehegt und gepflegt wird. Kinder essen Wände, Männer leben im Aufzug, Frauen wachen mit einem Fisch in der Unterhose auf. Dann gibt es da noch mysteriöse Haustiere, merkwürdige Kinder, verschwundene Türen und natürlich die chronisch Schlaflosen. Manche Menschen leben schon immer in diesem Haus, andere tauchen nur für eine kurze Episode auf.

„Meine Frau Lina, stolze Besitzerin eines grünene Daumens, die sich schon immer einen Garten mit Laubbäumen gewünscht hatte, stellte mich auf den Balkon. Sie sagte, nur dort bekäme ich genügend Sonne ab. Meine Frau war es auch, die mir täglich Wasser in die Stiefel goss, als im Herbst meine Zehen Wurzeln geschlagen hatten und eine mächtige Baumkrone mir die Sicht versperrte.“

Leider habe ich kein einziges Post-it bei diesem Roman verwendet, und das passiert mir ziemlich selten. Meistens nur bei inhaltlich recht flachen Romanen. Aber das ist Juliana Kálnays Roman eindeutig nicht. Vielleicht hat mich diese Form des Romans auch einfach zu sehr verwirrt? Es fällt mir wirklich schwer, eine Wertung zu diesem Buch abzugeben. Wenn ich meine o.g. Kriterien zugrunde lege, was einen guten Roman für mich ausmacht, kann Kálnay in einiger Hinsicht punkten. Ganz sicher hat mich Juliana Kálnay überrascht – und ganz sicher besitzt sie eine eigene unerfälschte Stimme. Eines steht fest: die Bewohner der Hausnummer 29 bleiben im Gedächtnis haften, schon allein wegen ihrer Skurrilität. Aber hinterlassen sie dort auch Spuren? Leider weiß ich nicht, was genau die Autorin erzählen möchte. Was war ihre Intention, diesen Roman zu schreiben? Das ist für mich das größte Manko an diesem Buch. Vielleicht bin ich da aber auch allein? Vielleicht finden meine Jurykollegen das Buch grandios? Vielleicht habt ihr es gelesen und seid anderer Meinung? Dann freue ich mich über den Austausch darüber und ob mir vielleicht eine wesentliche Interpretation des Romans entgangen ist.

Die Punktevergabe

Ob ein Buch gut ist oder nicht kann man nach so vielen verschiedenen Gesichtspunkten – und auch immer nur aus subjektiver Sicht bewerten. Wer hat den Titel Bestes Romandebüt verdient und aus welchen Gründen? Die fünf Bücher haben mir mehr oder weniger gut gefallen. Durch einige musste ich mich regelrecht kämpfen. Aber macht nicht das gute Literatur oft aus? Dass wir uns an ihr reiben und sie – trotz schwieriger Lesbarkeit – etwas in uns auslöst? Andere Bücher wiederum machen einfach mehr Freude zu lesen, unterhalten und sorgen für vergnügte Lesestunden. Persönlich lese ich am liebsten Bücher, die unterhalten und trotzdem meinen Horizont erweitern. Um die Bewertung nicht willkürlich zu gestalten, habe ich Punkte vergeben für die Eigenschaften, die ein gutes Buch meiner Ansicht nach besitzen sollte. Dabei vergebe ich auf einer Skala Punkte von 0 bis 4, wobei 0 für sehr wenig, 2 für mittel und 4 für sehr viel steht.

Eine eigene, unverfälschte Stimme
Weber 3, Bangel 2, Zehrer 2, Reisinger 4, Kalnay 4

Geschichten, die mich berühren und Spuren in mir hinterlassen
Weber 4, Bangel 3, Zehrer 4, Reisinger 3, Kalnay 1

Inhalt, der meinen Horizont erweitert, mir Neues vermittelt
Weber 2, Bangel 3, Zehrer 4, Reisinger 2, Kalnay 1

Inhalt, der mich zum Nachdenken bringt
Weber 4, Bangel 3, Zehrer 4, Reisinger 4, Kalnay 2

Charaktere, die Emotionen wecken
Weber 4, Bangel 2, Zehrer 3, Reisinger 3, Kalnay 1

Gute Lesbarkeit
Weber 2, Bangel 4, Zehrer 4, Reisinger 2, Kalnay 1

Markierwürdige Textpassagen
Weber 4, Bangel 1, Zehrer 3, Reisinger 4, Kalnay 0

Daraus ergibt sich folgende Platzierung:

  1. Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie (Diogenes Verlag) – 24 Punkte
  2. Julia Weber: Immer ist alles schön (Limmat Verlag) – 23 Punkte
  3. Jovana Reisinger: Still halten (Verbrecher Verlag) – 22 Punkte
  4. Christian Bangel: Oder Florida (Piper Verlag) – 18 Punkte
  5. Juliana Kálnay: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens (Wagenbach Verlag) – 10 Punkte

Es ist tatsächlich ein Kopf-an-Kopf-Rennen von drei Büchern. Ich bin froh, dass ich mit Klaus Cäsar Zehrer einem Buch 5 Wertungspunkte vergeben kann, dass ich sehr gerne gelesen habe und das gleichzeitig meinen Horizont erweitern konnte. Überrascht bin ich selbst von meinem zweiten und dritten Platz. Julia Weber erhält von mir 3 Punkte und Jovana Reisinger 1 Punkt. Mit beiden Büchern habe ich mich schwer getan ob ihres sehr eigenen Schreibstils. Aber beide Autorinnen haben Geschichten gezeichnet, die mich sehr berührt haben und konnten mich durch eine ganze Reihe denkwürdiger Textpassagen sehr zum Nachdenken bringen. Daher bin ich sehr froh, dass es zwei Titel auf meine Liste geschafft haben, die wahrscheinlich sonst nie auf meinem Lesestapel gelandet wären. Um Christian Bangel tut es mir etwas leid, weil das Buch mir doch große Freude gemacht hat. Aber ich bin mit meiner Wertung doch alles in allem sehr zufrieden.

Nachtrag:

Ihr wollt wissen, wie meine Jurykollegen über die Bücher denken? Dann schaut doch gerne mal rein, denn eines kann ich verraten: Die Meinungen gehen doch zum Teil stark auseinander, besonders was Juliana Kálnays Debüt angeht :

Angelika liest

Frau Hemingway

frintze

Leckere Kekse

Lesen macht glücklich

Literaturgeflüster

Literatur leuchtet

LiteraturReich

mokita

Zwischen den Seiten