„In Wirklichkeit hat man keine Ahnung, wie es sein wird, wenn man Kinder hat, bis es soweit ist. {…} Du weißt nicht, was für eine Mutter du sein wirst, was von dir übrig bleibt, bis es so weit ist, und noch nicht einmal dann, weil dieser Prozess so schleichend passiert.“
Österreich. Ein Vorfall an der Grundschule bringt das Leben von Pia und ihrem Mann Jakob ins Wanken. Ihr Sohn Luca soll etwas mit einem Mädchen angestellt haben, so behauptet es zumindest die Lehrerin. „Mädchen denken sich so etwas nicht aus“, sagt sie, doch Luca schweigt beharrlich.
Pias Vertrauen in ihren Sohn beginnt zu bröckeln – und die Zweifel reißen alte Wunden auf, denn ihre eigene Kindheit verbirgt Geheimnisse, die sie längst begraben glaubte. Pia weiß, dass Kinder dunkle Seiten haben können. Doch kann sie ihrem Instinkt trauen? Und was, wenn das Schweigen ihres Sohnes mehr sagt, als Worte es je könnten? Während sie immer mehr an Lucas Unschuld zweifelt, wächst die Distanz zwischen Mutter und Sohn – und mit ihr die Frage: Wie weit kennt man die, die man liebt, wirklich?
Jessica Lind gelingt es, in Kleine Monster die vielschichtigen, widersprüchlichen und oft schmerzhaften Gefühle der Mutterschaft intensiv und ehrlich darzustellen. Die Autorin scheut nicht davor zurück, genau dort hinzusehen, wo es weh tut, wo man als Leser am liebsten wegschauen würde. Themen wie Schuld, Fehlbarkeit und die oft ambivalente Verbindung zwischen Eltern und Kind stehen im Zentrum des Romans.
Die Geschichte wird aus der Perspektive der Mutter Pia erzählt und wir tauchen tief ein in ihre Gefühle und Konflikte. Durch den Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit – insbesondere zwischen dem akuten Vorfall an der Schule und Pias eigenen Kindheitserinnerungen – entsteht eine spannende Dynamik. Sie erlaubt es der Autorin, tief in die Mechanismen von Trauma, Prägung und den Auswirkungen auf das heutige Verhalten einzutauchen.
„Sie lächelt noch einmal. Alles lächelt sie einfach weg. Wenn sie so tut, als würde sie die Geister nicht sehen, dann verschwinden sie. Nie will ich so werden wie sie.“
Trotz der ruhigen Erzählweise erzeugt das Buch eine unterschwellige Bedrohung. Die Unsicherheit, Schuld und Verzweiflung, die Pia durchlebt, wirken beklemmend und lassen eine düstere Atmosphäre entstehen. Kleine Monster ist keine Wohlfühllektüre – und genau darin liegt ihre Stärke.
Allerdings bleibt die eigentliche Handlung, der Vorfall an der Schule, eher ein Ausgangspunkt für Pias innere Reise als der Fokus der Geschichte. Leser, die aufgrund des Klappentextes eine andere Erwartung haben, könnten enttäuscht sein. Auch fällt es stellenweise schwer, sich mit der Protagonistin zu identifizieren, da Pia keine klassische Sympathieträgerin ist. Dennoch liegt darin ein besonderes Merkmal des Romans: Die Autorin beleuchtet gnadenlos und ehrlich Gefühle, die gesellschaftlich oft tabuisiert werden.
Ein (kleiner) Kritikpunkt ist für mich der Mangel an Details. Viele Fragen bleiben unbeantwortet, und einige Aspekte der Handlung werden nur angedeutet. Vermutlich Absicht, dennoch an manchen Stellen unbefriedigend. Man hätte für mich noch etwas mehr aus der Geschichte rausholen können.
Insgesamt ist Kleine Monster ein intensiver Roman über die Fragilität von Beziehungen zwischen Mutter und Kind, über Schuld, Vertrauen und die prägende Kraft der Kindheit. Wer bereit ist, sich auf eine schonungslose und nachdenkliche Geschichte einzulassen, wird belohnt. Für mich 4 Sterne.
“Vielleicht ist nicht alles schwarz oder weiß. Es ist Zeit, in den Schattierungen zu leben.“
Der erste Satz
„Als ich mit dem Auto vorgefahren komme, wartet Jakob schon vor dem Schulgebäude.“
Buchinformationen
Kleine Monster von Jessica Lind, 22. Juli 2024, 256 Seiten, erschienen bei Hanser Berlin, Hardcover 24 Euro.
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Über die Autorin
„Jessica Lind wurde 1988 in St. Pölten, Österreich, geboren und lebt heute mit ihrer Familie als Drehbuchautorin und Schriftstellerin in Wien. Sie studierte an der Filmakademie Wien und schrieb u. a. mit der Regisseurin Magdalena Lauritsch den Film Rubikon. 2015 gewann sie mit der Erzählung „Mama“ den open mike, woraus ihr gleichnamiger Debütroman hervorging. Mit ihrem zweiten Roman, Kleine Monster, erscheint sie erstmals bei Hanser Berlin.“
Subjects: Ehe, Familie, Geschwister, Kinder, Leben, Lebenswege, Liebe, Mutterschaft, Trauer, Verlust