Die palästinensische Sicht der Dinge: Während die Welt schlief

David streckte die Schultern und räusperte sich. Er wusste, dass die improvisierte Geschichte Israels im Grunde nicht die seine war. In seinen Adern strömte die uralte Kultur seiner Vorfahren – aber auch sie gehörte nicht richtig zu ihm. Das Schicksal hatte ihn irgendwo dazwischengeworfen, ins Niemandsland.“

Israel/Westjordanland. Seit vierzig Generationen lebt die Palästinenser-Familie Abulhija als Oliven- und Obstbauern im idyllischen arabischen Dorf Ein Hod. Sie leben ein einfaches, zufriedenes Leben – bis 1948 der Staat Isreael ausgerufen wird und jüdische Einwanderer Anspruch auf das Land erheben, das seit 800 Jahren von Palästinensern bewirtschaftet wird. Die Dorfbewohner werden von den Zionisten mit Waffengewalt von ihren Grundstücken vertrieben und finden sich schließlich in einem Flüchtlingslager in Jenin wieder.

Susan Abulhawa erzählt in ihrem Roman „Während die Welt schlief“ vom beispielhaften Schicksal einer palästinensischen Familie im Nahostkonflikt und portraitiert dabei die Geschichte zweier palästinensischer Brüder, die im Chaos der Vertreibung der Palästinenser durch die Isrealis auseinander gerissen wurden. Während der eine Bruder, Yusuf, als palästinensischer Flüchtling sein Leben im Flüchtlingslager verbringt, wächst Ismael bei einer jüdischen Familie als deren Sohn David auf und erfährt erst spät von seiner Herkunft. Und dann gibt es da noch ihre Schwester Amal, die eigentliche Protagonistin des Romans, die im Flüchtlingslager geboren wird und die Heimat ihrer Vorväter nur aus Erzählungen kennt.

 

Der Roman „Während die Welt schlief“ ist für mich ein weiteres Werk, das dazu beiträgt, den Nahostkonflikt ein bisschen besser zu verstehen. Das Besondere dabei ist, dass hier die Sichtweise der Palästinenser eingenommen wird. Einige Kritiker sind der Meinung, dass dies zu einseitig geschieht und dass dadurch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit entsteht, das nur die Gräueltaten der Isreaelis hervorkehrt und die der Palästinenser verschweigt. Ich kann die Kritik zwar nachvollziehen, sehe das aber trotzdem nicht so. Eine Geschichte erscheint natürlich in unterschiedlichem Licht, je nachdem wer sie erzählt. Und ein Roman darf in meinen Augen Partei ergreifen. Mir hat das Buch geholfen, die Entwicklung in Palästina besser zu verstehen. Ganz sicher ersetzt der Roman kein Geschichtsbuch, aber mich hat er dazu angeregt, mich noch weiter in die Thematik zu vertiefen und die unterschiedlichen Sichtweisen in einem scheinbar ausweglosen Konflikt zweier Nationen besser kennen zu lernen. Da die Autorin selbst Palästinenserin ist und sich auch abseits der Schriftstellerei für die Rechte der Palästinenser einsetzt, dominiert natürlich die Sichtweise Palästinas. Das finde ich ok, denn Susan Abulhawa möchte den Palästinensern in der Literatur eine Stimme geben und die Kriegsverbrechen und die Menschenrechtsverletzungen an ihrem Volk ins Licht einer Öffentlichkeit rücken, die sonst dazu tendiert, eher die jüdische Sicht der Dinge wahrzunehmen.

„Schweigend bestaunte er den Beweis dessen, was die Israelis schon wissen: dass ihre Geschichte ein Sammelsurium aus uralten palästinensischen Traditionen darstellt. Die Europäer, die ankamen, kannten weder Hummus noch Falafel, bezeichneten beides aber als echte jüdische Küche. […] Sie besaßen keine alten Fotografien oder Zeichnungen, die zeigten, wie ihre Vorfahren das Land bestellten. […] Sie kamen nach Yaffa, entdeckten Orangen so groß wie Wassermelonen und riefen: „Seht! Die Juden sind berühmt für ihre Orangen.“ Aber diese Orangen waren das prächtige Ergebnis jahrhundertelanger palästinensischer Obstbautradition.“

Amals Geschichte ist geprägt von Krieg, Gewalt und Verlust. Aber sie erzählt auch auch von Freundschaft, Liebe und Verbundenheit. Der zarte, poetische Erzählstil von Susan Abulhawa hat mir gefallen. Der Autorin ist in meinen Augen ein aufrüttelnder Roman gelungen, der sehr lesenswert ist – auch wenn er eben in erster Linie die Sichtweise der Palästinenser beleuchtet und die der Israelis nur am Rande streift. Eines ist klar. In diesem Konflikt geht um mehr als nur um das Land. Es geht um Heimat, Identität, Gerechtigkeit, Sicherheit – und das für beide Seiten. Wer sich in Kürze über den Konflikt und die Hintergründe beider Seiten informieren möchte, dem sei dieses Erklärvideo ans Herz gelegt – und wer weitere Romane über den Nahostkonflikt sucht, der findet bei Perlentaucher eine Auflistung von 173 Büchern.

Um sich abseits von Romanen mit dem Nahostkonflikt zu beschäftigen, kann ich folgende Bücher empfehlen:

Wer den Wind sät – Was westliche Politik im Orient anrichtet. Von Michael Lüders, erschienen bei C.H. Beck

Streit um das Heilige Land – Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte. Von Dieter Vieweger, erschienen im Gütersloher Verlagshaus, Verlagsgruppe Random House

Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern. Von Michael Wolffsohn, erschienen im Piper Verlag

Der erste Absatz

„Jenin, 2002. Amal wollte dem Soldaten genauer in die Augen schauen, doch die Mündung der Schnellfeuerwaffe, die er gegen ihre Stirn presste, verhinderte das. Sie war trotzdem nah genug an seinem Gesicht, um zu erkennen, dass er Kontaktlinsen trug. Sie stellte sich vor, wie der Soldat vor dem Spiegel stand und sie einsetzte, bevor er sich fertig machte, um zu töten. Seltsam, dachte sie, woran man denkt, wenn man sich in diesem Grenzbereich zwischen Leben und Tod aufhält.

Buchinformationen

Während die Welt schlief von Susan Abulhawa, Taschenbuchausgabe, erschienen im April 2012 im Diana Verlag (Random House). 448 Seiten, 9,99 Euro. Aus dem Englischen von Stefanie Fahrner. Deutsche Erstausgabe erschienen 2011.

Buy Local! Hier online beim Buchhändler meines Vertrauens bestellen

Über die Autorin

Susan Abulhawa. Geboren als Kind palästinensischer Flüchtlinge wuchs Susan Abulhawa in Kuwait, Jordanien und Jerusalem auf. Als Teenager ging sie in die USA, wo sie heute gemeinsam mit ihrer Tochter lebt. Die Autorin engagiert sich aktiv für die Menschenrechte und die Lebensumstände von palästinensischen Kindern in besetzten Gebieten. Ihre Romane »Während die Welt schlief« und »Als die Sonne im Meer verschwand« sind internationale Bestseller.“


Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur, Politischer Roman, Religion & Glaube, Roman
Subjects: Angst, Araber, Familie, Flucht, Freundschaft, Geschichte, Geschwister, Gesellschaft, Glaube, Heimat, Islam, Israel, Israel-Konflikt, Juden, Judentum, Kinder, Krieg, Leben, Lebenswege, Nahostkonflikt, Nationalsozialismus, Palästina, Schicksal, Terrorismus, Trauer, USA, Verlust, Vertreibung, Zusammenhalt

Ich freue mich über eure Kommentare, Fragen, Meinungen, Anregungen und und und :-) ...