„…ein Junge, der nicht für sich selbst eintritt, wird zu einem Mann, der für gar nichts eintritt.“
Afghanistan 1975: Den zwölfjährigen Amir und seinen besten Freund Hassan verbindet eine ungewöhnliche Freundschaft. Beide wachsen ohne Mutter und weiblichen Einfluss auf. Amir wohl versorgt – und doch irgendwie einsam – im feudalen Haus seines vermögenden, einflussreichen Vaters „Baba“. Hassan als Sohn von Babas langjährigem Hausangestellten Ali im Dienstbotenhaus des Anwesens. Trotz ihrer gesellschaftlichen Unterschiede und trotz ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Ethnien – Amir ist ein Paschtune, Hassan ein Hazara – verbringen die beiden Jungs ihre Kindheit zusammen. Sie klettern auf Bäume, spielen Streiche und Amir, der gerne Geschichten schreibt und bei seinem Vater damit auf Unverständnis stößt, liest Hassan, der selbst nie lesen gelernt hat, Geschichten vor. Doch während Hassan stets wohlwollend und gütig ist und seinem Freund Amir bedingungslos ergeben, spürt Amir, dass er selbst nicht so uneigennützig ist. Gefühle wie Neid, Missgunst und Angst erfüllen ihn – und er ertappt sich immer wieder dabei, wie er Hassan demütigt und verleugnet.
„Ich wusste, dass ich grausam war, genau wie wenn ich ihn verhöhnte, weil er irgendein schwieriges Wort nicht kannte. Aber Hassan aufzuziehen hatte irgendwie etwas Faszinierendes, wenn auch auf eine kranke Art. So als würden wir Insektenfoltern spielen. Bloß war er jetzt die Ameise, und ich hielt das Vergrößerungsglas in der Hand.“
Von seinem Vater fühlt Amir sich nicht richtig wahrgenommen und er buhlt um seine Gunst, versucht mit allen Mitteln seine Zuneigung zu gewinnen – auch wenn es auf Kosten anderer ist. Als das jährliche Drachenfest beginnt, nimmt Amir sich vor gemeinsam mit Hassan das Rennen zu gewinnen – und so seinen Vater mit Stolz zu erfüllen. Doch der Tag des Rennens soll das Leben der beiden Freunde auf andere Weise für immer verändern…
Viele Jahre später, Amir ist inzwischen in die USA geflüchtet, schaut er zurück auf die Schatten seiner Kindheit – und sein Weg führt in zurück in ein vom Krieg gebeuteltes Afghanistan, um eine alte Schuld zu sühnen.
„…denn keiner von uns hatte jemals Gewehrschüsse auf den Straßen vernommen. Die Generation afghanischer Kinder, deren Ohren nichts als die Geräusche von Bomben und Geschützfeuer kennen würden, war noch nicht geboren.“
Wenn ich an Afghanistan dachte, hatte ich vor dem Lesen dieses Buches eigentlich nur die Bilder aus den Nachrichten im Kopf. Bilder von Terror, von Angst, von zerbombten Straßen, von Militär, von armen und verängstigten Menschen, von Mädchen ohne Bildung, von Taliban. In „Drachenläufer“ zeigt Autor Khaled Hosseini ein anderes Afghanistan. Ein Afghanistan vor dem Krieg, vor den Taliban, vor dem Terror. Aus der Sicht des jungen Afghanen Amir erleben die Leser die Entwicklung Afghanistans – von einem lebens- und liebenswerten Land unter der fortschrittlichen und westlichen Politik Sahir Schahs, die – wie ich bei meiner weiteren Recherche erfahren habe – dem Land Demokratie, die Emanzipation der Frau, eine moderne Infrastruktur und Pressefreiheit brachte – hin zu Terror, Zerstörung, Unterdrückung, Angst und Verrat.
Die Leser erleben den Sturz Sahir Schahs durch die Kommunisten, den Einzug der Sowjetischen Truppen und den Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Mudschahedin-Gruppierungen nach deren Abzug – und damit die Zerstörung des einst wunderschönen Landes. Dabei gelingt es dem Autor famos, die sich ausbreitende Welle aus Angst, Verrat und Terror im Land greifbar zu machen, als Nachbarn, Familien, Freunde und Kollegen anfingen, sich für Geld oder unter Androhung von Gewalt zu verraten.
„Die rafiqs, die Genossen, waren überall, und sie hatten Kabul in zwei Gruppen gespalten: die, die heimlich lauschten, und die, die es nicht taten. Das Problem war, dass niemand wusste, wer zu welcher Gruppe gehörte.“
Und ebenso famos gelingt es ihm, die Flucht von Amir und Baba aus ihrer geliebten Heimat und die Herausforderungen zu schildern, die sich den afghanischen Flüchtlingen im Exil stellen. Wie schwer es Baba fällt, sich an die völlig anderen Gepflogenheiten der westlichen Welt anzupassen. Angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise, gewinnen Hosseini’s Passagen zum afghanischen Krieg sowie zu Flucht und Exil neue Relevanz.
„…leider ist das Afghanistan unserer Kindheit lange tot. Es gibt keine Freundlichkeit, keine Güte mehr in diesem Land, und man kann dem Morden nicht entkommen. Mord und Totschlag, wohin man auch blickt. In Kabul wohnt überall die Angst – in den Straßen, im Stadion, auf den Märkten -, sie ist ein Teil unseres Lebens hier, Amir Aga. Die Bestien, die über unser watan herrschen, scheren sich nicht um Anstand und Menschenwürde.“
„Drachenläufer“ ist eine dramatische Geschichte von Freundschaft und Verrat, Schuld und Sühne, Hoffnung und Angst. Die Leser tauchen ein in ein Leben, das durch Terror, Flucht und Exil plötzlich eine ganz neue Wendung nimmt – und das alles vor dem Hintergrund der traurigen politischen Entwicklung Afghanistans.
Der Roman ist nicht nur poetisch, spannend und äußerst kurzweilig, er hat auch meinen Horizont erweitert. Er liefert Hintergründe zu Volksgruppen wie den Paschtunen oder Hazara – deren Geschichte und Verhältnis untereinander. Die Hazara wurden als ethnische und konfessionelle Minderheit immer wieder Opfer von Diskriminierung, besonders durch die wohlhabende paschtunische Oberschicht. Er vermittelt ein Verständnis für die Bedeutung gesellschaftlicher afghanischer Gepflogenheiten wie Hilfsbereitschaft und Höflichkeit sowie den Einfluss von Ansehen, Ehre und Familie – er liefert aber auch einen Einblick in die Rolle der Frau, Ehe und Sexualität oder den Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne. Städte wie Kabul, Peschawar und Islamabad entstehen vor dem geistigen Auge und der Leser lernt, diese mit ganz neuen Augen zu sehen.
Khaled Hosseini, der selbst in Afghanistan aufgewachsen ist, schrieb diesen Roman, um die Menschen daran zu erinnern, dass das heutige Afghanistan nicht immer so war. Das ist ihm mit Bravour gelungen. Laut Wikipedia wurde das Buch bislang acht Millionen mal verkauft und in 34 Sprachen übersetzt. Im Jahr 2007 wurde es unter der Regie von Marc Forster verfilmt.
Wieder mal ein alter Schatz aus den Untiefen meines Bücherregals. Meine Empfehlung: Lest dieses wundervolle Buch, wenn ihr es nicht bereits getan habt! Und wenn ihr es bereits getan habt, lest es nochmal!
Der erste Satz
„An einem eiskalten, bedeckten Wintertag des Jahres 1975 wurde ich – im Alter von zwölf Jahren – zu dem, der ich heute bin.“
Buchinformationen
Drachenläufer von Khaled Hosseini, Taschenbuch, erschienen im November 2004 im Berlin Verlag (Piper Verlag), 384 Seiten.
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Über den Autor
„Khaled Hosseini wurde 1965 in Kabul, Afghanistan, als Sohn eines Diplomaten geboren. Seine Mutter unterrichtete Persisch und Geschichte. Die Familie verließ Afghanistan 1976, als Khaleds Vater eine Stelle an der Afghanischen Botschaft in Paris bekam. 1980 emigrierte die Familie in die Vereinigten Staaten. Hosseini studierte Medizin in San Diego und arbeitete anschließend als Internist. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Kalifornien. »Drachenläufer« ist sein erster Roman, er ist inzwischen in über 40 Ländern erschienen, war in den USA monatelang Bestseller Nr. 1 und hat sich weltweit bereits über 9 Millionen Mal verkauft. 2007 erschien sein zweiter Roman »Tausend strahlende Sonnen«“
Subjects: Afghanistan, Angst, Egoismus, Familie, Flucht, Freundschaft, Kinder, Krieg, Leben, Lebenswege, Religion, Taliban, Terror, Trauer, Traum, USA, Vater-Sohn-Beziehung, Verlust, Verrat