„Sein Gehirn erbrach Erinnerungen, sie überfluteten alles andere – er dachte an Menschen, Empfindungen und Ereignisse, an die er seit Jahren nicht gedacht hatte. Geschmäcker erschienen auf seiner Zunge wie durch Alchemie; er roch Dinge, die er seit Jahren nicht gerochen hatte. Sein System war gestört; er würde in seinen Erinnerungen ertrinken.“
New York. Jude, Willem, JB und Malcolm – eine Männerclique in New York. Die vier Freunde haben sich am College kennen gelernt und wir begleiten sie durch ihr Leben und ihre Freundschaft. Im Mittelpunkt steht der intelligente und rätselhafte Jude St. Francis. Jude ist liebenswert, geistreich und würde für seine Freunde alles tun. Doch er ist auch gebrochen. Er kämpft innerlich und äußerlich um sein Leben – und nach und nach treten die Schatten seiner Vergangenheit zutage, die auch das Leben von Judes Freunden überschatten, obwohl sie so wenig von ihrem Freund wissen. Nur in seinem Beruf als Anwalt scheint Jude sein Leben im Griff zu haben. Seine Freunde Willem, JB und Malcolm kämpfen mit ihren eigenen Dämonen. Gemeinsam und jeder für sich meistern sie ihr Leben, was ihnen mal mehr und mal weniger gut gelingt.
Es gibt gute Bücher, und es gibt Bücher, die will man einfach nicht mehr aus der Hand legen. Man möchte immer weiter blättern und es stimmt einen traurig, wenn man die letzte Seite gelesen hat. In letztere Kategorie fällt Ein wenig Leben. Und das soll schon was heißen, denn immerhin hat das Buch fast tausend Seiten.
Ich weiß, ich bin spät dran mit meiner Lobeshyme. Das Buch hat 2017 schon die Literaturkritik bewegt. Was mich so lange vom Lesen abgehalten hat – mir stand irgendwie nicht der Sinn nach dicken Wälzern – hat sich nun als Segen erwiesen. Denn mich hat jede Seite, die Autorin Hanya Yanagihara uns geschenkt hat, gefesselt. Die Protagonisten werde ich so schnell nicht vergessen. Ich bin sicher, sie werden mich noch lange begleiten.
Im Mittelpunkt des Romans „Ein wenig Leben“ steht das Leben und Leiden von Jude – und seine Beziehung zu Willem. Die beiden verbindet eine lebenslange intensive, ganz besondere Freundschaft. Nach und nach erfahren Judes Freunde – und wir als Leser – mehr über dessen Leben und die Dämonen seiner Vergangenheit. Sie enthüllen sich Stück für Stück – und ziehen uns immer tiefer in ihren Sog von Leid und Schmerz.
Was macht uns zu dem Menschen, der wir sind? Wieviel Leid kann ein Mensch ertragen? Was macht ein Leben lebenswert? Was bedeutet Freundschaft? Und wieviel Schmerz vermögen Freundschaft und Liebe aufzufangen? Das sind die zentralen Fragen, die im Buch aufgeworfen werden.
Aber obwohl das Buch so wahnsinnig intensiv und fordernd ist – und uns hautnah erleben lässt, zu welchem Schmerz und Unheil das Leben fähig ist, so ist es trotz allem – wie ich finde – ein sehr lebensbejahendes Buch. Das ist der Autorin zu verdanken, die jede Facette des Lebens mit ihren wundervollen Worten einzufangen weiß. Und so erleben wir nicht nur die Tiefpunkte im Leben von Jude, Willem, JB und Malcolm, sondern ganz besonders auch ihre Höhepunkte mit voller Seele. Mit all der Liebe, Freundschaft, Hingabe, Hoffnung und Leidenschaft, zu der das Leben fähig ist. Ein wenig Leben eben.
„Warum zählte eine Freundschaft weniger als eine Beziehung? Warum nicht sogar mehr? Zwei Menschen, die Tag für Tag zusammenblieben, nicht durch Sex oder körperliche Anziehung, nicht durch Geld, durch Kinder oder gemeinsamen Besitz aneinander gebunden, sondern allein durch das gegenseitige Einverständnis, zusammenzubleiben, das gemeinsame Bekenntnis zu einer Verbindung, die sich jeder Festschreibung entzog.“
Ich fand es wahnsinnig bereichernd, die vier Freunde in ihrem jeweiligen und ihrem gemeinsamen Leben zu begleiten. Willem auf seinem Weg vom Kellner zum Schauspieler. JB, der Maler, in seinem künstlerischen Schaffen und Zweifeln. Malcolm, der unter den Erwartungen seines erfolgreichen Vaters leidet und seinen eigenen Weg als Architekt sucht, wenn auch diese Figur meiner Meinung nach am blassesten bleibt. Und natürlich Jude – in seinem Leben voller Gegensätze. Auch abseits der vier Freunde lernen wir tolle Menschen am Rande ihres Weges kennen, die ihren Eindruck beim Lesenden hinterlassen.
Den einen oder anderen Kritikpunkt mag es geben. Denn Hanya Yanagihara geizt in ihrem Roman „Ein wenig Leben“ nicht mit Superlativen. Wir erleben das Böse in seiner reinsten Form, ohne zu wissen, wo es seinen Ursprung hat. Schlimmer geht immer ist die Devise, hat man das Gefühl. Und wir erleben die Liebe in ihrer reinsten Form, denn auch wenn es zwischen den Vieren durchaus mal kriselt und alle ihre Probleme haben, so kennt die Freundschaft und Liebe doch keine Grenzen. Wir erleben auch Erfolg in seiner reinsten Form, denn obwohl alle Protagonisten hadern und zweifeln, sind sie doch sehr intelligent, geistreich, hingebungsvoll und letztendlich auch alle über die Maßen erfolgreich.
„[…] dies war die Ära der Selbstverwirklichung, in der es als willensschwach und schändlich galt, sich mit etwas Geringerem als dem absoluten Lebenstraum abzufinden.“
Die Autorin überwältigt ihre Leser, indem sie alles auf die Spitze treibt, Gutes wie Böses. Ob einem das gefällt, muss jeder für sich entscheiden. Ich finde, dass gerade dieses überzeichnete Echo von Freundschaft und Liebe das Buch zu etwas Besonderem macht und deren Bedeutung auf diese Weise hervorhebt. Wer nicht mit diesen Superlativen hadert und sich dem Lesevergnügen hingibt, wird dafür mit einem Sog belohnt, in den einen nur gute Literatur zu ziehen vermag, und der einen am Ende benommen, aber glücklich wieder ausspuckt.
Ich will gar nicht zu viel von der Handlung verraten, da sich die Charaktere, ihre Herkunft, ihre Beweggründe, ihre Entwicklungen nach und nach im Buch entfalten – und ich nichts davon vorweg nehmen möchte.
Nur soviel: es lohnt sich zu 100%, sie kennen zu lernen!
„Er hätte es als Traurigkeit bezeichnen können, aber es war keine mitleidige Traurigkeit; es war eine umfassendere Traurigkeit, eine, die all die armen, strebsamen Menschen einzuschließen schien, die Milliarden, die er gar nicht kannte, die alle ihr Leben lebten, eine Traurigkeit, in die sich Verwunderung und Ehrfurcht angesichts dessen mischten, wie sehr sich die Menschen allerorten anstrengten zu leben, mochten ihre Tage noch so hart, ihre Lebensumstände noch so ungünstig sein.“
Der erste Absatz
„Die elfte Wohnung hatte nur einen einzigen Schrank, aber es gab eine gläserne Schiebetür, die auf einen kleinen Balkon führte, von dem aus er einen Mann im Haus gegenüber sehen konnte, der nur mit T-Shirt und kurzen Hosen bekleidet im Freien saß und eine Zigarette rauchte, obwohl es schon Oktober war. Willem hob eine Hand zum Gruß, aber der Mann winkte nicht zurück. „
Buchinformationen
Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara, Taschenbuch, 6. Auflage, September 2019, 958 Seiten, erschienen im Piper Verlag, 16,00 Euro. Deutsche Erstausgabe 2018. Erstmals erschienen 2015 unter dem Titel „A little Life“ bei Doubleday, New York.
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Über die Autorin
„Hanya Yanagihara, 1974 geboren, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin. Mit ihrem Roman „Ein wenig Leben“ gewann sie den Kirkus Prize und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize, des National Book Award und des Baileys Prize. „Ein wenig Leben“ ist eines der bestverkauften und meistdiskutierten literarischen Werke der vergangenen Jahre. Eine TV-Serie, produziert von Scott Rudin (The Social Network, No Country for Old Men, Frances Ha, Grand Budapest Hotel), ist in Vorbereitung.“
Subjects: Adoption, Anwalt, Architektur, Beruf, Einsamkeit, Freundschaft, Gesellschaft, Glaube, Homosexualität, Jura, Kinder, Kunst, Leben, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, Missbrauch, New York, Schauspiel, Schicksal, Schmerz, Sex, Tod, Trauer, Traum, Trauma, USA, Verlust