„Er war sagenhaft sauber. Geradezu ostentativ sauber. Der Rand seiner Fingernägel war reinweiß. Die wenigen Haare unter den Fingerknöcheln waren immer noch golden und wirkten stets wie frisch shamponiert, ebenso wie sein lockiges, immer noch rötlich braunes Haupthaar.“
Edward Feathers ist ein Mann ohne Fehl und Tadel, stets adrett, höflich, mustergültig, formvollendet. In seinem Leben scheint einfach alles mühelos gelungen zu sein. Gesegnet mit hoher Intelligenz und gutem Aussehen, verlässt ‚Old Filth‘ als junger Mann London und steigt in Hongkong zum einflussreichen Kronanwalt und später zum Richter des British Empire auf. Er wird ein vermögender Mann und lebt mit seiner Ehefrau Betty angesehen und erfolgsgekrönt in China, bis er sich im beschaulichen Dorset in Südwestengland zur Ruhe setzt. Doch ist das Leben des Edward Feathers wirklich so geradlinig verlaufen? Wer hat ihn überhaupt wirklich gekannt? Als seine Betty stirbt, bewahrt er wie gewohnt seine Haltung. Doch eines Morgens setzt er sich ans Lenkrad seines Wagens und begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit, um sich und sein zurück liegendes Leben zu ergründen.
Mit großem Einfühlungsvermögen und einem grandiosen Sinn für Ironie lässt Jane Gardam uns teilhaben am bewegenden Leben des Edward Feathers. Obwohl er kauzig ist und irgendwie ein Sonderling, schließt man ‚Old Filth‘ schnell ins Herz und taucht ein in ein außergewöhnliches und faszinierendes Leben im untergehenden British Empire.
„Ich werde Historiker. Das ist mein Plan. Das ist die einzige Hoffnung – dass wir lernen, wie wir das geworden sind, was wir sind. Ich meine, Primaten. Aggressionen. Das Empire geht unter. Es säuft ab. Das wird ein ziemliches Chaos, wenn es verschwunden ist, und wir werden dann kein besseres Volk sein.“
Fast 90 Jahre ist sie alt, diese großartige Autorin. Ihren Roman „Old Filth“ hat Jane Gardam bereits 2004 geschrieben. Warum es so lange gedauert hat, bis sie auch hierzulande Anerkennung erfährt, ist mir schleierhaft. Gardam hat ihren Roman den Raj-Waisen gewidmet, die wie ihr Protagonist in der Kindheit aus den Kolonien gerissen und von ihren Eltern getrennt in die Heimat geschickt wurden.
Obwohl der Roman anspruchsvoll ist mit seinen Spitzen und Rückblenden, lässt er sich doch federleicht lesen. Es geht um Menschlichkeit, Empathie und schicksalhafte Erlebnisse und Begegnungen. Dem ein oder anderen mag es an Spannung oder Zuspitzung fehlen, aber ich fand die erfrischende, sehr britische und sehr ironische Erzählweise großartig. Wer skurile, kauzige Charaktere mag und gerne einen Blick ins britische Leben zu Zeiten des Empires erhaschen möchte, dem sei „Ein untadeliger Mann“ wärmstens empfohlen. Ich habe ihn schnell ins Herz geschlossen, den eigenbrötlerischen Edward Feathers und ihn sehr gerne beim Rückblick auf sein Leben begleitet.
„Ein untadeliger Mann“ ist ein großartiges Buch über die Diskrepanz zwischen Schein und Sein. Ein Buch über die Upper Class im untergehenden British Empire, voller Humor, Ironie und Gefühl. Das Schöne: der Fortsetzungsroman der Trilogie „Eine treue Frau“ ist bereits im März erschienen.
Buchinformationen
Ein untadeliger Mann von Jane Gardem, Gebundene Ausgabe, erschienen im August 2015, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag, 352 Seiten. Die englische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel Old Filth bei Chatto & Windus in London. Übersetzt von Isabel Bogdan („Der Pfau“). 22,90 Euro.
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Über die Autorin
Jane Gardam wurde 1928 in North Yorkshire geboren und lebt in East Kent. Als einzige Schriftstellerin wurde sie gleich zweimal mit dem Whitbread/ Costa Award ausgezeichnet. Mit Ein untadeliger Mann stand sie auf der Shortlist des Orange Prize.
Subjects: Anwalt, Britisch, British Empire, Ehe, Einsamkeit, Empathie, England, Freundschaft, Gesellschaft, Hong Kong, Leben, Lebenswege, Liebe, London, Malaysia, Raj-Waisen, Schicksal, Sonderling, Tod, Trauer, Verlust