„Liebe ist gewaltig“ – Dieses Buch ebenfalls

„Jeder erzählt eine andere Geschichte über dieselben Dinge. Die Wahrheit, das ist reine Verhandlungssache.“

In einer deutschen Vorstadt. Juli wächst in einer scheinbar perfekten Familie auf, doch hinter den geschlossenen Türen ihres schicken Vorstadthauses herrscht das Grauen. Ihr Vater ist ein brutaler Tyrann, der die Familie mit physischer und psychischer Gewalt quält und ihre Mutter leugnet die brutale Realität. Nur ihre Geschwister und eine kleine Maus geben Juli Halt. Mit scharfem Sarkasmus und eisernem Willen kämpft Juli darum, sich aus dem Kreislauf der Gewalt zu befreien. In Berlin versucht sie, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, doch die Schatten des Traumas verfolgen sie weiter und treiben sie letztlich hinein in eine dysfunktionale Beziehung. Wie kann man sich befreien, wenn man selbst den eigenen Erinnerungen misstraut? Über drei Jahrzehnte hinweg begleiten wir Juli in ihrem Befreiungskampf – gegen ihr Elternhaus und gegen sich selbst. Liebe ist gewaltig ist ein kraftvolles Debüt über Schmerz, Überleben und die Suche nach Freiheit.

Buchcover Liebe ist gewaltig

Es gibt Romane, die lange in einem nachklingen, und Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher gehört zweifellos dazu. Es ist selten, dass ein Debütroman derart viele Facetten in sich vereint: Er bewegt tief, zieht den Leser förmlich in seinen Bann, verzaubert mit Sprachgewalt und bietet dennoch immer wieder Momente, die trotz der teils brutalen und immer wieder schockierenden Schilderungen ein Lächeln hervorrufen. Schumachers meisterhaftes Debüt lässt den Leser gleichermaßen erschüttert und voller Bewunderung zurück.

Im Zentrum steht Juli, eine Protagonistin, die widersprüchlich ist und auch Widerspruch erzeugt: sie ist verletzlich, zornig, sarkastisch, stark und schwach und zutiefst verzweifelt. Aus der Ich-Perspektive begleiten wir sie beim Älterwerden, in einer Familie gefangen, die von der Tyrannei eines gewalttätigen Vaters geprägt ist. Die physische und emotionale Gewalt, die er über die Mutter und Kinder ausübt, wird mit erschreckender Klarheit beschrieben und das Entsetzen hallt tief im Leser nach. Doch Julis Geschichte ist nicht nur eine Geschichte des Leidens – es ist auch eine Erzählung von Überleben und Befreiung. Schumacher gelingt es, die Dynamiken von Familientrauma eindringlich zu schildern, und zeigt, wie schwer der Weg heraus sein kann.

„Irgendwie komisch, wenn man in einem Alter, in dem man schon erwachsen aussieht, beim Vater schläft. Bald wollte ich das nicht mehr, aber weil Papa beleidigt war, hab ich noch ein bisschen mitgemacht. Immer dieses Parieren, Funktionieren, Gehorchen, damit das Monster nicht aus dem dünnen Nervenkostüm fährt.“

Der Erzählstil ist mitreißend, die Sprache kraftvoll und bildreich. Es ist fast unmöglich, das Buch zur Seite zu legen. In den ersten beiden Teile des Romans erleben wir Juli als Teenager in einer nicht näher benannten deutschen Vorstadt und als junge Erwachsene in Berlin. Der Roman zeichnet sich durch psychologische Tiefe und das reelle Grauen zwischen den Buchdeckeln aus. Für Betroffene muss man eine Triggerwarnung aussprechen. Doch trotz des bedrückenden Themas schafft es die Autorin, immer wieder schwarzen Humor einzuflechten – ein Element, das den Roman auf besondere Weise bereichert und das Lesen trotz der Schwere des Themas leicht macht.

Die Charaktere – allen voran der narzisstische Vater, dessen Worte ebenso verletzend sind wie seine Schläge, und die ko-abhängige Mutter, die wegschaut und verzeiht und sich in Unschuld badet – sind tiefgründig und authentisch gezeichnet. Ebenso wie die vier Kinder, die alle auf unterschiedliche Weise mit dem Erlebten umgehen.

„Mama ist nichts so wichtig wie ihre vermeintliche Unschuld. Aus ihr leitet sie das Recht ab, für nichts Verantwortung übernehmen zu müssen. Ihre überdrehte Emotionalität ist nichts weiter als der Versuch, sich demonstrativ von allem reinzuwaschen.
Sie hat zahlreiche Taschentücher voll geschnieft, sie dekorieren ihren Stuhl im Kreis wie die Sterne bei der Europaflagge. Ein nicht enden wollender Strom kommt aus den seltsam riesigen Löchern ihrer zierlichen Nase. Papa hasst dieses Löcher. Er sagt, Mama habe die Nase eines Drachen. Wenn sie Schnupfen hat, sagt er: Jetzt rotzt sie noch das Resthirn raus. Papa ist widerlich. Aber was ist eigentlich Mama?“

Besonders aufrüttelnd ist die Fassade, die die Familie nach außen hin aufrechterhält: eine perfekte, gebildete Anwaltsfamilie in einem schicken Einfamilienhaus – doch hinter den Mauern tobt ein psychologischer Krieg, den niemand mitbekommt oder so wirklich wahrnehmen möchte.

„Ich glaube, unsere bürgerliche Fassade war immer so fest und gut gepflegt von Mama und Papa, dass Ben überhaupt nicht wirklich verschaltete, was ich ihm erzählte. Irgendein Filter in seinem Kopf regelte das Gehörte runter auf ein verständliches Maß, bis mein Vater zwar einer war, der vielleicht kein gutes Gespür fürs richtige Strafmaß hatte, aber er war ja immer noch dieser Anwalt, den alle kannten, ein zu Recht angesehener Mann mit einer glamourösen Frau und mit Kindern, die die halbe Stadt bewunderte. […] Ab der Mittelschicht aufwärts gibt es keine Opfer, erst recht keine Täter.“

Im dritten Teil erleben wir fassungslos mit, wie Juli sich voller Verzweiflung und Hals über Kopf in eine sehr ungesunde Beziehung stürzt und der Meinung ist, dadurch ihr Leben zu retten. Hier folgt ein Wechsel zur dritten Person, eine erzählerische Raffinesse, die uns sowohl Einblicke in Julis Gedankenwelt, als auch die ihres Freundes gewährt und die einem nicht selten Übelkeit verursacht.

„Einen anderen Mann hätten diese neuen Einblicke in Julias Welt vielleicht stutzig gemacht, doch Thilo war schlau, er witterte seinen Vorteil. Was er da vor sich hatte, war eine Premiumfrau. Ramponiert, das schon, doch dafür bekam er sie für lau. Sie würde ihn brauchen und sich dankbar zeigen. Hatte er sie poliert, würde sie glänzen wie das Schmückstück, das er im ersten Moment in ihr gesehen hatte.“

Zwischen dem Leser und Juli ensteht im Laufe des Romans ein enges Band und ihr scharfsinniger Witz und ihr Sarkasmus laden immer wieder zum Lachen ein – auch wenn ihre Lebenswelt alles andere als das ist. Liebe ist gewaltig ist ein Buch, das nicht nur unter die Haut geht, sondern auch noch lange nach dem Lesen nachhallt. Ein beeindruckendes Debüt, das zeigt, wie kraftvoll Literatur sein kann.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen, aber du hast, so scheint es mir, ein ganzes falsches Leben erfunden, nur um den Schmerz zu töten.“

Der erste Satz

„ES RIECHT NACH eimerweise Chlor und diesem modrigen Hauch von Schimmel, den selbst die fleißigste Putzkolonne aus diesen 70er-Jahre-Hallenbädern nicht rauskriegt.“

Buchinformationen

Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher, 18. Mai 2022, 376 Seiten, erschienen im dtv Verlag, Hardcover 22 Euro, Taschenbuch 13 Euro.

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Über die Autorin

„Claudia Schumacher, 1986 in Tübingen geboren, wuchs im Stuttgarter Speckgürtel auf, studierte in Berlin und lebte einige Jahre in Zürich. Sie arbeitete als Journalistin, unter anderem für die ›NZZ am Sonntag‹ und für ›DIE ZEIT‹. Heute lebt sie als Schriftstellerin in Hamburg. Ihr Debütroman ›Liebe ist gewaltig‹, der für den aspekte-Literaturpreis sowie den Newcomer-Preis des Harbour Front Literaturfestivals nominiert war, wurde im Rahmen der Hamburger Literaturpreise als »Buch des Jahres« 2022 und mit dem Literaturstipendium 2023 des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.“


Genre: Belletristik, Familienroman, Gegenwartsliteratur, Psychologischer Roman, Roman
Subjects: Angst, Deutschland, Einsamkeit, erwachsen werden, Familie, Geschwister, Gewalt, Gewalttätiges Elternhaus, Glück, Kinder, Leben, Lebenswege, Liebe, Mutterschaft, Trauer, Zusammenhalt

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