„Sie hatten sich das Leid vergeben, das sie einander zugefügt hatten, und betrachteten selbstversunken, was aus ihrem gemeinsamen Leben hätte werden können.“
Missouri. William Stoner ist ein einfacher und pflichtbewusster junger Mann, dessen karges und arbeitsreiches Leben auf der Farm seiner Eltern vorgezeichnet scheint. Doch als der Farmerssohn überraschend von seinen Eltern zum Landwirtschaftsstudium auf die Columbia University geschickt wird, entdeckt er eine ganz neue Welt abseits des Landlebens… – und seine Leidenschaft für Literatur. Statt auf die Farm seiner Eltern zurückzukehren, wird er Dozent für englische Literatur – und stellt sein Leben und sein Pflichtbewusstsein künftig in den Dienst der Wissenschaft, die für ihn trotz aller Leidenschaft große Enttäuschungen birgt. Er verliebt sich in die distanzierte, aus wohlhabendem Hause stammende Edith Bostwick – und stellt sein Leben und sein Pflichtbewusstsein auch in den Dienst dieser Ehe, die ihn jedoch ebenfalls alles andere als glücklich macht. Auf was wird Stoner am Ende seines Lebens zurückblicken?
(Achtung: Diese Rezension enthält Spoiler, weil eine Besprechung dieses bewegenden Romans anders nicht möglich war. Aber ich bin der Meinung, dass ein gewisses Vorwissen für das Lesevergnügen unerheblich ist – zumal der Autor selbst das Leben seines Protagonisten bereits im ersten Satz vorweg nimmt.)
Stoner ist laut Klapptentext „einer der großen vergessenen Romane der amerikanischen Literatur.“ 1965 erstmals gedruckt, erlangte der Roman tatsächlich erst nach einer Neuausgabe im Jahr 2006, lange nach dem Tod des Autors, in den New York Review of Books Classics internationale Beachtung und entwickelte sich daraufhin zum Publikumserfolg.
Stoner ist die Geschichte eines recht schlichten, anspruchslosen Lebens, das nur wenig Spuren hinterlässt. Wenig Erfolge, wenig Liebe, wenig Freundschaften. William Stoners Karriere bleibt trotz aller Ambitionen auf niedrigem Niveau, seine lieb- und leidenschaftslose Ehe ist eine einzige Katastrophe ohne Aussicht auf Besserung, die wenigen Freundschaften bleiben eher oberflächlicher Natur und schließlich lässt er es zu, dass er selbst bei seiner Tochter kaum noch in der Lage ist, Spuren zu hinterlassen. Immer wieder fragt man sich, warum Stoner sein Schicksal nicht selbst gestaltet, warum er alles über sich ergehen lässt ohne die Initiative zu ergreifen. Das er es schafft, sich vom Farmleben abzuwenden und Dozent für englische Literatur zu werden, scheint leider das einzige Mal zu sein, dass der Protagonist sein Leben wirklich in die Hand nimmt.
„Er trat aus Jesse Hall auf den Campus, und das morgendliche Grau wirkte nicht länger bedrückend; es zog den Blick ins Weite und hinauf in den Himmel, sodass Stoner meinte, einer Möglichkeit entgegenzusehen, für die er keinen Namen hatte.“
Ist es Ergebenheit, Pflichtgefühl, Akzeptanz, Genügsamkeit, dass der Protagonist den weiteren Möglichkeiten in seinem Leben nicht entgegensehen kann, dass er sich in sein vermeintliches Schicksal fügt und auf Neuanfänge verzichtet? Oder fühlt er sich unzulänglich, hat das Gefühl nicht mehr zu verdienen, nicht wirklich etwas ändern zu können? Stoners scheinbar gelassene Hinnahme unerträglicher Lebensumstände ruft in mir widersprüchliche Gefühle hervor. Einerseits muss ich ihn bewundern – für sein Durchhaltevermögen, die Akzeptanz über seinen Platz in dieser Welt, sein Pflichtgefühl der Familie und dem Beruf gegenüber. Andererseits wollte ich Stoner beim Lesen immer wieder schütteln – angesichts seiner Tolerierung wiederkehrender beruflicher Tiefschläge und fehlender Anerkennung, aber ganz besonders angesichts seiner stoischen Erduldung einer lieblosen, zerstörerischen Ehe, die ihm nicht nur alle Freude und Leidenschaft nimmt, sondern auch die emotionale Nähe zu seiner geliebten Tochter Grace. Ich fand es wahnsinnig traurig und deprimierend, mitzuerleben, wie viele Chancen auf Lebensglück Stoner sehenden Auges verstreichen lässt.
„Nach einem Monat wusste er, dass seine Ehe scheitern würde, nach einem Jahr hoffte er nicht mehr darauf, dass es je besser werden würde. Er lernte, mit der Stille zu leben und nicht auf seiner Liebe zu beharren. […] Sie gab ihrem Mann zu verstehen, dass sie die Berührung seiner Hände nicht länger ertrug, und er gewann den Eindruck, sie empfinde selbst die Blicke, mit denen er sie betrachtete, als eine Art Vergewaltigung.“
Warum nur bleiben William und Edith Stoner eigentlich zusammen? Hat er damit wirklich seine Pflicht gegenüber der Familie erfüllt – oder hat er damit nicht nur sich selbst, sondern auch seine Frau und seine Tochter ins Unglück gestürzt? Das bleibt wohl genauso nebulös und nur in Teilen nachvollziehbar wie die Gründe für Ediths Abweisung, Abwesenheit und Stimmungsschwankungen.
„Selbst in den gewöhnlichsten Augenblicken des Familienlebens verlief ihre Kindheit steif und förmlich. Die Eltern wahrten stets eine distanzierte Höflichkeit; nie erlebte Edith, dass sie einander mit der spontanen Emotion von Ärger oder Liebe begegneten. Ärger bedeutete Tage höflichen Schweigens, Liebe war ein Wort höflicher Zuneigung. Edith blieb ein Einzelkind, und Einsamkeit gehörte zu den frühesten Befindlichkeiten ihres Lebens.“
Der Roman und sein Schreibstil wirken auf den ersten Blick schnörkellos und nüchtern – eben genau wie sein Protagonist. Doch gerade deshalb ist er wahnsinnig ergreifend. Die Geschichte kommt ganz ohne Cliffhanger und Action aus, denn es ist die Geschichte eines einfachen Lebens und eine Geschichte der Menschlichkeit – mit all ihren Faszetten. Es geht um Arbeit und Bestimmung, es geht um Familie, um Freundschaft, um Seelenverwandtschaft und Liebe. Ja, in erster Linie geht es um Liebe in jeder Hinsicht, obwohl es kein Liebesroman im eigentlichen Sinne ist. Stoners Liebe für seine Arbeit und die Universität, seine Familie, um die wahre Liebe zwischen Mann und Frau – und natürlich Stoners Liebe für die Literatur.
„›Es ist Liebe, Mr Stoner‹, erwiderte Sloane fröhlich. ›Sie sind verliebt. So einfach ist das.‹ Und so einfach war es.“
Gerade die Schlichtheit der Geschichte ist es, die ihr eine solche Tiefe verleiht. Denn es ist – wenngleich ein fiktives, doch ein reales Leben, in das uns John Williams da hineinzieht. Und er lässt uns dabei sehr viel Spielraum zur Interpretation. Das Buch wäre ein großartiges Werk für jeden Literaturkreis. Mir würden auf Anhieb zehn spannende Diskussionsfragen einfallen, die ich gerne einmal mit anderen Literaturfreunden besprechen würde.
Besonders ergreifend fand ich den Teil, in dem der über vierzigjährige Stoner auf seine wahre Liebe trifft, die Doktorandin Katherine Driscoll – und für kurze Zeit das Glück in greifbare Nähe rückt.
„Er träumte vom Vollkommenen, von Welten, in denen sie immer zusammenbleiben konnten, und halb glaubte er an die Möglichkeit des Geträumten. […] Allerdings spürte er, dass die Welt näherrückte.“
Ich nehme an, es gibt nicht wenige Menschen, die ihr Leben tatsächlich in weiten Teilen ereignislos leben, die sich in ihr Schicksal fügen ohne Wagnisse einzugehen. Obwohl sie vielleicht nicht wirklich glücklich sind, verharren sie lieber in ihrer Gewohnheit, als einen Neuanfang zu wagen. Natürlich ist die Lieblosigkeit von Stoners Ehe in dieser Form sehr extrem, in ihren Grundzügen aber sicherlich nicht ungewöhnlich. Hin und wieder lässt uns Stoner einen Blick hinter seine stoische Gelassenheit werfen – und wir erfahren, wie es wirklich in ihm aussieht.
„Manchmal fürchtete er, nur noch vor sich hin zu vegetieren, und er sehnte sich nach etwas, das ihn durchbohrte, sei es auch Schmerz, damit er sich endlich wieder lebendig fühlte. […] Er war zweiundvierzig Jahre alt; vor sich sah er nichts, auf das er sich zu freuen wünschte, und hinter sich nur wenig, woran er sich gern erinnerte.“
Ganz nebenbei erhalten die Leser im Roman übrigens einen Einblick in die gesellschaftlichen Bedingungen in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und mir persönlich haben, da ich selbst an einer Hochschule arbeite, auch die Schilderungen des Campuslebens gefallen, die sich in Teilen auch im heutigen Wissenschaftsbetrieb wiederfinden. Amüsieren konnte ich mich über die Kritik von Stoners Freund Dave Masters am Konstrukt der Universität:
„Es ist eine Klapse […] eine Art Seniorenheim, eine Zuflucht für die Gebrechlichen, die Alten, die Unzufriedenen oder die auf andere Weise Unzulänglichen. Schaut euch uns drei doch an – wir sind die Universität.“
Beim Lesen der Biografie des Autors stellte sich mir die Frage, wie autobiografisch dieses Werk ist. Denn John Williams war selbst Dozent für Englische Literatur und wurde zu Lebzeiten zwar gelesen, erlangte aber – wie William Stoner in seinem Metier – keine Berühmtheit. In seiner Ehe hatte Williams nicht das Durchhaltevermögen seines Protagonisten. Er war im Gegenteil ganze viermal verheiratet. Aber vielleicht hat ihm gerade das den Anlass gegeben, der Ehe seines Protagonisten diesen Verlauf zu geben. Auch wenn Williams in seiner Widmung an seine ehemaligen Universitätskollegen betont, dass dies ein fiktiver Roman ist, so war der Gleichklang in der Namenswahl seines Protagonisten William Stoner wohl nicht ohne Motiv.
Ganz sicher ist Stoner ein Roman, der tief berührt und der im Leser nachwirkt, auch noch nach Wochen. Ich werde ihn bestimmt ein zweites mal lesen, um all seine Faszetten zu entdecken.
Das Buch berührt eine ganz existenzielle Frage des Menschseins. Was ist die menschliche Bestimmung? Was ist Schicksal und in wieweit kann und sollte jeder Mensch es selbst in die Hand nehmen? Wie möchte man eigentlich im Angesicht der Endlichkeit aller Dinge leben? Und was wiegt schwerer – Pflicht und Verantwortungsgefühl oder Lebensglück? Diese Fragen muss wohl jeder für sich selbst beantworten. Und ich denke, das ist ein ganz großes Vermächtnis dieses Romans. Das es hierauf keine eindeutigen Antworten gibt. John Williams hatte jedenfalls seine ganz eigene Sicht auf seinen Protagonisten:
„Ich finde, er ist ein wahrer Held. Viele Leser des Romans meinen, Stoner hätte ein trauriges und schlechtes Leben gehabt. Ich glaube aber, er hatte ein sehr gutes Leben.“
Der erste Absatz
„William Stoner begann 1910, im Alter von neunzehn Jahren, an der Universität von Missouri zu studieren. Acht Jahre später, gegen Ende des ersten Weltkriegs, machte er seinen Doktor der Philosophie und übernahm einen Lehrauftrag an jenem Institut, an dem er bis zu seinem Tode im Jahre 1956 unterrichten sollte. Er brachte es nicht weiter als bis zum Assistenzprofessor, und nur wenige Studenten, die an seinen Kursen teilnahmen, erinnern sich überhaupt mit einiger Deutlichkeit an ihn.“
Buchinformationen
Stoner von John Williams, Taschenbuch, Dezember 2014, 352 Seiten, erschienen in der dtv Verlagsgesellschaft 10,90 Euro. Deutsche Erstausgabe September 2013. Erstmals erschienen 1965. Übersetzt von Bernhard Robben.
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Über den Autor
„John Edward Williams (1922 -1994) wuchs im Nordosten von Texas auf. Er besuchte das örtliche College und arbeitete dann als Journalist. 1942 meldete er sich widerstrebend, jedoch als Freiwilliger zu den United States Army Air Forces und schrieb in der Zeit seines Einsatzes in Burma seinen ersten Roman. Nach dem Krieg ging er nach Denver, 1950 Masterabschluss des Studiums Englische Literatur. Er erhielt zunächst einen Lehrauftrag an der Universität Missouri. 1954 kehrte er zurück an die Universität Denver, wo er bis zu seiner Emeritierung Creative Writing und Englische Literatur lehrte.
Williams war vier Mal verheiratet und Vater von drei Kindern. Er verfasste fünf Romane (der letzte blieb unvollendet) und Poesie. John Williams wurde zu Lebzeiten zwar gelesen, erlangte aber keine Berühmtheit. Dank seiner Wiederentdeckung durch Edwin Frank, der 1999 die legendäre Reihe New York Book Review Classics begründete, zählt er heute weltweit zu den Ikonen der klassischen amerikanischen Moderne.“
Subjects: Affäre, Beruf, Ehe, Familie, Freundschaft, Gesellschaft, Kinder, Krieg, Leben, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, Schicksal, Selbstverwirklichung, Tod, Traum, Universität, USA