Über Schuld und Vergebung: Abbitte

„Sie war selbst in die Falle gelaufen, ins Labyrinth ihrer Hirngespinste marschiert, und sie war zu jung, zu verschüchtert, zu gefallsüchtig, um auf einer Umkehr zu bestehen. […] Eine eindrucksvolle Gemeinde hatte sich um ihre ersten Gewißheiten geschart, und die wartete nun auf sie und konnte vor dem Altar nicht mehr enttäuscht werden. Ihre Zweifel ließen sich bloß dadurch beschwichtigen, dass sie sich immer vehementer ans einmal Gesagte klammerte. Nur indem sie unbeirrt an dem festhielt, was sie zu wissen glaubte, keine Abweichung zuließ und ihre Aussage stetig wiederholte, konnte sie das Unheil aus ihren Gedanken verbannen, das sie, wie sie dumpf ahnte, mit ihren Worten anrichtete.“

Ein englisches Landgut im Jahr 1935. Die 13-jährige Briony Tallis hat eine blühende Phantasie und möchte Schriftstellerin werden. An einem schicksalhaften Sommerabend beobachtet sie die sich anbahnende Liebe zwischen ihrer zehn Jahre älteren Schwester Cecilia und dem Sohn der Zugehfrau, Robbie Turner. In ihrer Unerfahrenheit und ihrer Einbildungskraft entspinnt sie in ihrem Kopf ein Trugbild der Wirklichkeit. Ein unglaublich heißer und fataler Sommertag nimmt seinen Lauf. Ein Tag, an dem ein Mädchen vergewaltigt wird, Briony Schicksal spielt und damit das Leben dreier Menschen für immer verändert.

Cover Abbitte_Ian Mc Ewan

Es ist schon eine Weile her, dass ich Abbitte von Ian McEwan gelesen habe. Es hat mich im letzten August in den Sommerurlaub begleitet. Das Buch ist mir aber so nachhaltig im Gedächtnis geblieben, dass ich euch meine Rezension dazu nicht vorenthalten möchte. Denn wenn ihr das Buch noch nicht gelesen habt, dann solltet ihr das unbedingt nachholen! Dem Autor ist in meinen Augen ein großartiger psychologischer Roman gelungen, ein Roman über Schuld, Gedankenlosigkeit, Selbsterkenntnis und Vergebung, über Familienbande und Liebe. Aber gleichzeitig ist es auch ein Roman über die Unendlichkeit und Tücken der Phantasie und des Schreibens. Vor dem Hintergrund der britischen Gesellschaft der 40er Jahre, die sich auf den Zweiten Weltkrieg vorbereitet, entfaltet das Buch seine soghafte Wirkung und findet in den Grauen des Zweiten Weltkrieges sein großes Finale.

Abbitte besteht aus drei Teilen, in denen der Autor immer wieder verschiedene Perspektiven einnimmt, sowie einem Nachspann. Alles beginnt mit dem schicksalhaften, heißen Sommertag im Jahr 1935, dessen Auswirkungen die Protagonisten ihr ganzes Leben lang verfolgen werden. Dieser Tag nimmt fast die Hälfte des Buches ein. In diesem ersten Teil benötigt der Leser ein wenig Durchhaltevermögen, denn die Geschichte entspinnt sich in einem sehr langsamen Erzähltempo. Doch es lohnt sich, denn man wird dafür mit einem großartigen Blick in die Innenwelten der beteiligten Figuren belohnt. Hier zum Beispiel in Emily Tallis, die Mutter, die alleine mit der jüngsten Tochter Briony und den Hausangestellten auf dem Landsitz der Familie lebt und von ihrem Ehemann betrogen wird.

„Immerzu belogen zu werden war zwar nicht gerade Liebe, verriet aber doch nachhaltige Anteilnahme; sie musste ihm schließlich etwas bedeuten, wenn er ihr über einen so langen Zeitraum hinweg derart ausgeklügelte Ausreden vorsetzte. Seine Schwindeleien waren eine Art Tribut an die Bedeutsamkeit ihrer Ehe. […] eines Tages würde er für immer daheim bleiben, ohne daß auch nur ein unfreundliches Wort gefallen war.“

Ian Mc Ewan lässt uns in die Entwicklung seiner Charaktere im Laufe der Jahre und Jahrzehnte eintauchen. Im zweiten und dritten Teil nimmt die Geschichte an Fahrt auf und wir folgen erst Robbie Turner und schließlich allen drei Protagonisten – Briony, Robbie und Cecilia – mitten hinein in den Zweiten Weltkrieg.

Es ist schwierig, mehr über die Handlung des Romans zu schreiben, ohne zu spoilern. Und ich denke, das spricht nur für den Autor. Aber soviel sei gesagt: Ian McEwan gelingt es virtuos, in die verschiedenen Erzähl-Perspektiven einzutauchen. Die Sicht der ich-bezogenen, geltungsbedürftigen 13-jährigen Briony gelingt ihm dabei ebenso beispiellos wie ihr Empfinden als junge Krankenschwester im Krieg oder ihr Rückblick als alte, erfolgreiche Schriftstellerin.

„Sie fragte sich, ob die ausschließliche Verantwortung für ein anderes Wesen, und sei es ein Pferd oder ein Hund, grundsätzlich mit der wilden, nach innen gewandten Reise zu vereinbaren war, die das Schreiben bedeuten konnte. Sorgenvolle Anteilnahme, sich auf die Eigenheiten eines anderen Wesens einzulassen, die Geschicke anderer fürsorglich zu lenken, das ließ sich wohl kaum geistige Freiheit nennen.“

Der Leser taucht aber ebenso ein in das Innenleben des zu Unrecht inhaftierten Robbie Turner und leidet mit Cecilia Tallis, die mit der Familie bricht um ihrem Herzen zu folgen.

Der bereits für das Kino verfilmte Roman wurde von der Kritik hoch gelobt, die ZEIT nannte ihn ein „tiefenpsychologisches Meisterwerk“. Im Jahr 2001 wurde er für den Booker Prize nominiert. Das Time Magazin zählte ihn zu den besten 100 englischsprachigen Romanen, die zwischen 1923 und 2005 veröffentlicht wurden. Und die BBC-Auswahl würdigte ihn als eines der bedeutendsten Werken des frühen 21. Jahrhunderts.

Ich hoffe, das reicht euch aus, um euch von dem Buch zu überzeugen .

Der erste Absatz

Das Theaterstück – für das Briony Plakat, Programmzettel und Eintrittskarten entworfen sowie einen umgekippten Wandschirm in eine Abendkasse verwandelt und eine Sammelbüchse mit einer roten Kreppmanschette ausgeschlagen hatte – war von ihr in einem zweitägigen Schaffensrasch geschrieben worden, über dem sie sogar ein Frühstück und auch noch das Mittagessen vergaß. „

Buchinformationen

Abbitte von Ian McEwan, Taschenbuch, 2004, 544 Seiten, erschienen im Diogenes Verlag, 13,00 Euro. Deutsche Erstausgabe erschienen im Jahr 2002. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Erstmals erschienen 2001 unter dem Titel „Atonement.“ bei Jonathan Cape, London.

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Über den Autor

Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg ›Abbitte‹ ist jeder seiner Romane ein Bestseller. Zuletzt kamen Verfilmungen von ›Am Strand‹ (mit Saoirse Ronan) und ›Kindeswohl‹ (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences.“

Abbitte Buch Cover

 


Genre: Belletristik, Britische Romane, Gegenwartsliteratur, Liebesroman, Roman
Subjects: Bücher, Dünkirchen, erwachsen werden, Familie, Freundschaft, Geschwister, Gesellschaft, Glück, Kinder, Krieg, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, Nationalsozialismus, Reue, Schicksal, Schreiben, Schuld, Unschuld, Verlust

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