„Wenn gezielt versucht wird, den Charakter und Willen eines Menschen zu brechen, nur damit er die Erwartungen der Außenwelt erfüllt, wenn er systematisch verbogen werden soll zu einem Wesen, das seinem innersten Selbst entfremdet ist, dann ist das Folter auf psychischer Ebene.“
Klaus Cäsar Zehrers „Das Genie“ aus dem Diogenes Verlag war eines von fünf Büchern, die für das Rennen um die Auszeichnung als bestes Romandebüt 2017 auf der Shortlist von „Das Debüt“ gelandet waren. Es war das Buch, das mich vom Klappentext her am meisten angesprochen hat. Und es ist auch tatsächlich das Buch, dass meinen persönlichen Lesegeschmack am besten getroffen hat. Und ebenso ist es das Buch, das ich unter Abwägung aller Kriterien auf Platz 1 gewählt habe. Es geht darin um die unglaubliche, aber wahre Lebensgeschichte von William James Sidis, der als „Wunderjunge von Harvard“ bekannt wurde und als der intelligenteste Mensch der Welt galt. Um die Geschichte von William verstehen zu können, muss man zuerst seinen Vater kennen und verstehen lernen, Boris Sidis, der seinen Sohn als Experiment sah und ihn durch ein frühzeitiges spezielles Lernprogramm zum Genie erziehen wollte.
Und so startet der Roman auch mit dem hoch intelligenten Boris Sidis, der 1887 völlig mittellos in die USA auswandert. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeitet nur wenn es nötig ist und widmet seine gesamte Freizeit dem Selbststudium. Er giert nach Wissen und verbringt jede freie Minute in Bibliotheken oder mit Büchern in seiner Kammer. Denn er ist sich sicher: nur durch Bildung kann die Welt eine Bessere werden. Boris saugt Wissen in sich ein, spricht zehn Sprachen fließend und schafft es schließlich dank seiner enormen Intelligenz nach Harvard. Seine Frau Sarah stammt ebenfalls aus ärmlichen Verhältnissen und Bildung war für sie der einzige Weg ihrem Schicksal zu entrinnen. Ehrgeiz und Zielstrebigkeit einen die beiden, wenn man auch nicht wirklich von Liebe sprechen kann. Dank Boris Unterstützung wird Sarah die erste weibliche Absolventin eines Medizinstudienganges an der Boston University School of Medicine. Boris selbst wird ein angesehener Psychologe und stellt sein Leben – und schließlich auch seinen Sohn – ganz in den Dienst der Wissenschaft. Denn als William geboren wird, entschließt sich sein Vater, mit einem speziellen Lernprogramm seine geistigen Fähigkeiten zu trainieren. Seine Frau unterstützt ihn dabei. Und sie scheinen Erfolg zu haben, denn William wird mit 11 Jahren der jüngste Harvard Student aller Zeiten. Boris ist überzeugt davon, dass mit der „Sidis-Methode“ jedes Kind zum Genie geformt werden kann. Doch als William erwachsen wird, weigert er sich, die Erwartungen seiner Eltern und der Gesellschaft zu erfüllen. Er hinterfragt das Leitmotiv seines Vaters ob Bildung wirklich zu einer besseren Welt und einem besseren Leben verhilft, oder ob nicht die Wissenschaft eher eine Gefahr für die Menschheit sei. Und er stellt sich die Frage, was ein glückliches Leben eigentlich ausmacht.
„So waren ja die meisten Leute. Sie waren mit ihren Berufen und ihren Familien ausgefüllt, so wie ein Huhn damit ausgefüllt war, nach Würmern zu picken und Eier zu legen. War das das Geheimnis des glücklichen Lebens? Oder nur Einfalt? Oder beides, weil Einfalt die Voraussetzung des glücklichen Lebens war? Und wenn dem so sein sollte: War dann das Glück für ihn, William, unerreichbar geworden? Einfalt war ja nichts, was man lernen konnte, man musste sie sich herüberretten aus der Kindheit.“
William versucht, sein Leben nach seinen eigenen Regeln und Vorstellungen zu gestalten – und lebt es mit aller Konsequenz. Auch wenn das den Bruch mit seiner Familie bedeutet. Also schlägt er sich mehr oder weniger allein durchs Leben. Durch seine Erziehung war William zwar hyperintelligent geworden, gerät aber immer wieder in Schwierigkeiten mit seinen Mitmenschen, da die Sozialisierung mit Anderen im Erziehungsprogramm keine große Rolle spielte.
„William war froh, zurück zu sein in der Welt der Zahlen. Unter Menschen fühlte er sich immer etwas unsicher. Ihre Unberechenbarkeit war ihm nicht geheuer. Nie sah er voraus, was sie als Nächstes taten. Zahlen waren ganz anders. Mit ihnen verstand er sich blind, sie täuschten und enttäuschten ihn nie. Eine Sieben war immer eine Sieben und entpuppte sich niemals hinterrücks als falsche Fünf. Das wusste er sehr zu schätzen.“
Das Buch ist mit 656 Seiten der seitenstärkste Titel der Shortlist. Aber ich habe es in zwei Tagen weg gelesen und fand es großartig. Auch wenn es hier stilistisch nichts Neues zu entdecken gibt und das Buch vielleicht an einigen wenigen Stellen etwas langatmig gerät: mich hat die traurige Geschichte des William James Sidis fasziniert und bewegt. Klaus Cäsar Zehrer ist ein sehr unterhaltsamer, tragi-komischer Roman über einen sehr sehr außergewöhnlichen Menschen gelungen. Es ist ein Buch über Chancen und Risiken von Früherziehung, über Fluch und Segen hoher Intelligenz und die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu dürfen. Großartig fand ich auch, dass das Buch ein tolles Panorama des 20. Jahrhunderts zeichnet: wie Leben und Arbeiten sich verändert haben, wie sich die Erforschung geistiger Krankheiten, Psychologie und Psychoanalyse entwickelt haben und die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in den USA. Ich kann das Buch uneingeschränkt empfehlen, wie so oft die Bücher aus dem Diogenes Verlag. Und ich bin sehr froh, dass es den ersten Platz im Rennen um das beste Romandebüt des Jahres 2017 belegen konnte.
Der erste Absatz
„Das Erste, was Boris Sidis tat, nachdem er amerikanischen Boden betreten hatte, war, seinen beiden Reisebegleitern die Freundschaft zu kündigen. Sie hatten zwei Monate ihres Lebens miteinander geteilt, waren nachts im peitschenden Regen zwischen Radywyliw und Brody durch den Wald geirrt, um unbemerkt auf galizischen Boden zu gelangen, hatten sich erst nach Lemberg und von dort aus nach Wien durchgeschlagen, waren mit dem Zug nach Hamburg gereist, hatten eine Passage über Le Havre nach New York gekauft und drei Wochen unter Deck des Segeldampfers ss Lessing verbracht. Und nun standen Alexij und Wladimir morgens um halb acht, erschöpft von den Reisestrapazen und steinmüde, an der Südspitze Manhattans, im Rücken den gewaltigen Rundbau von Castle Garden, zwei von Millionen Einwanderern, die in den letzten Jahrzehnten dieses Tor zur Neuen Welt durchschritten hatten, und mussten sich von Boris zurechtweisen lassen wie Schuljungen.“
Buchinformationen
Das Genie von Klaus Cäsar Zehrer, Hardcover Leinen, erschienen im August 2017 im Diogenes Verlag. 656 Seiten, 25,00 Euro.
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Über den Autor
„Klaus Cäsar Zehrer, geboren 1969 in Schwabach, ist promovierter Kulturwissenschaftler und lebt als freier Autor, Herausgeber und Übersetzer in Berlin. Er veröffentlichte u.a. zusammen mit Robert Gernhardt die Anthologie ›Hell und Schnell‹, das Standardwerk der deutschsprachigen komischen Lyrik. ›Das Genie‹ ist sein erster Roman.“
Subjects: Bildung, Erziehung, Familie, Frühförderung, Genie, Glück, Harvard, Hypnose, Krieg, Leben, Lebenswege, Medizin, New York, Psychische Erkankung, Psychologie, Selbstverwirklichung, Sigmund Freud, USA
Vielen Dank für die Empfehlung und des Buches : Das Genie! Ich werde gleich Morgen in eine Buchhandlung fahren und es mir kaufen. Bei diesen grauen Tagen gibt es nichts Besseres, als zu lesen, oder zu schreiben!
Liebe Anneli,
Das sehe ich ganz genauso 😊. Ich hoffe das Buch gefällt dir genauso gut wie mir.
Liebe Grüße
Nadine