„Fiona leitete das Verfahren mit dem ganzen Ernst und der Gewissenhaftigkeit einer Atomphysikerin, richtete über etwas, das mit Liebe begonnen und mit Hass geendet hatte.“
London. Familienrichterin Fiona Maye lebt für ihren Beruf. Auf ihrem Schreibtisch landen Scheidungen, Sorgerechtsklagen und Fragen des Kindeswohles und ihre Urteile sind legendär, ihre Begründungen nur selten anfechtbar. Sie führt eine kinderlose, aber seit 30 Jahren glückliche Ehe – bis zu einem schicksalhaften Abend, an dem ihr Mann Fiona einen schockierenden Vorschlag unterbreitet und ein Fall auf ihrem Tisch landet, in dem ein 17-jähriger Junge eine lebensnotwendige Behandlung verweigert.
„Die Arbeit ging dem Familiengericht nicht aus. Reines Pech bei der Zuteilung, dass Fiona es mit so vielen Ehekrisen zu tun bekam. Purer Zufall, dass sie selbst in einer steckte. In ihrem Rechtsgebiet schickte man Leute normalerweise nicht ins Gefängnis, dennoch malte sie sich in müßigen Momenten aus, wie sie alle dieses Leute hinter Schloss und Riegel brachte, die auf Kosten ihrer Kinder eine jüngere Frau wollten, einen reicheren oder weniger langweiligen Mann, einen anderen Wohnort, frischen Sex, frische Liebe, eine neue Weltanschauung oder einen netten Neuanfang, ehe es zu spät war. Allen ging es nur um ihr Vergnügen.“
Ich nehme es vorweg. Mit ‚Kindeswohl‘ ist Ian McEwan ein wahnsinnig tolles Buch gelungen. Er hat zum einen ein Thema aufgegriffen, das mich sehr angesprochen hat, und zum anderen ist McEwans Schreibstil einfach großartig. Er streut so viele treffende Beobachtungen und zwischenmenschliche Reflexionen ein, dass ich mit meinen Post-its, mit denen ich tolle Textpassagen markiere, gar nicht mehr nachkam. Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und habe es an einem Tag ausgelesen.
McEwan gibt seinen Lesern Einblicke in den Alltag einer Familienrichterin – und liefert damit wichtige Denkanstöße zum Thema Ehe, Familie und Kinder. Mit Schrecken liest man die vielen verschiedenen Familienstreitigkeiten, die meist auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden und obwohl man der Meinung ist, man selbst würde immer das Wohl des eigenen Kindes an erste Stelle rücken, fragt man sich doch unweigerlich: Könnte es Umstände geben, in denen ich je in eine solche Situation geraten könnte?!
Viele schicksalhafte Entscheidungen musste Richterin Fiona Maye in ihrer beruflichen Laufbahn schon treffen, und sie hat vor Gericht unzählige Ehen scheitern sehen. Nun geht es nach so vielen Jahren plötzlich um ihr eigenes Schicksal, ihre eigene Ehe. Doch die Energie, sich mit der Lösung ihrer privaten Krise auseinander zu setzen findet die Juristin nicht. Viel zu sehr ist sie mit ihrem Beruf verheiratet, nimmt ihr Job sie in Anspruch. Es gilt, eine Entscheidung zu treffen in einem Fall, in dem der 17-jährige Adam die Behandlung verweigert, weil er und seine Familie den Zeugen Jehova angehören. Sie nimmt sich des Falls an, auf ungewöhnliche Weise – und trifft eine Entscheidung, die nicht nur das Leben von Adam beeinflussen wird.
Ian McEwan beschreibt ganz fantastisch das Spannungsfeld von Berufs- und Privatleben, in dem die Richterin sich bewegt. Und wie es ihr gelingen muss, sich voll und ganz auf ihren Fall und die Einzelschicksale, die sich dahinter verbergen einzulassen – und private Probleme hinten anzustellen.
„Sie trat ein, alle erhoben sich, sie nahm Platz und wartete, bis die Parteien im Saal unten sich gesetzt hatten. Vor ihr lag ein dünner Stoß Papier, neben den sie ihren Federhalter legte. Erst dann, beim Anblick ihrer cremeweißen, sauberen Bögen, verschwanden die letzten Spuren, der Makel ihrer eigenen Situation vollständig aus ihrem Bewusstsein. Sie hatte kein Privatleben mehr, sie war bereit, sich vereinnahmen zu lassen.“
Einziges Manko an diesem Roman, weswegen ich auch einen Stern abziehe: Die persönlichen Konflikte zwischen Fiona und ihrem Mann Jack sowie dem 17-jährigen Adam waren für mich nicht ganz authentisch und die Religionskritik an den Zeugen Jehova nicht unbedingt neu. Ich möchte an dieser Stelle die Handlung nicht vorweg nehmen. Nur soviel, dass die Ehekrise in dieser Konstellation, wie McEwan die Ehe von Jack und Fiona beschreibt, irgendwie unglaubwürdig erscheint und mich der Plot an dieser Stelle nicht ganz überzeugt hat. Und – ohne auch hier zuviel verraten zu wollen – die zwischenmenschliche Entwicklung zwischen der Richterin und ihrem minderjährigen Schützling ist für mich auch nicht so recht nachvollziehbar. Großartig fand ich hingegen das Feingefühl des Autors, mit dem er die Stimmung in der Ehe und dem Konflikt von Fiona und Jack einfängt und diese lähmende Unfähigkeit Wichtiges auszudiskutieren. Diese Unfähigkeit, die entstehen kann, wenn man emotional zu gefangen ist in einer Situation oder einfach restlos überfordert, wenn man gefangen ist in einer Art emotionaler Sprachlosigkeit.
„Dein Problem ist“, sagte er vom anderen Ende des Zimmers, „dass du nie glaubst, dich erklären zu müssen. Du hast dich von mir entfernt.“
Mein Lesevergnügen haben die Schwächen im Plot allerdings nicht wirklich beeinträchtigt, denn die 224 Seiten waren eine wahre Freude. Also kurz und knapp mein Fazit: Vier Sterne Plus! Lest unbedingt dieses Buch!
Der erste Absatz
„London. Sonntagabend, eine Woche nach dem Ende der Gerichtsferien. Nasskaltes Juniwetter. Fiona Maye, Richterin am High Court, lag zu Hause auf der Chaiselongue und starrte über ihre bestrumpften Füße hinweg quer durch den Raum.“
Buchinformationen
Kindeswohl von Ian McEwan, Taschenbuchausgabe, erschienen im August 2016 im Diogenes Verlag. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. 224 Seiten, 12,00 Euro. Deutsche Erstausgabe erschienen im Januar 2015. Originalausgabe erschienen im September 2014 unter dem Titel „The Children Act“ bei Jonathan Cape.
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Über den Autor
„Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er für ›Amsterdam‹ den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für das Gesamtwerk. Sein Roman ›Abbitte‹ wurde zum Weltbestseller und mit Keira Knightley verfilmt. Er ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences.“
Subjects: Affäre, Beruf, Ehe, England, Familie, Gericht, Justiz, Kinder, Leben, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, London, Musik, Religion, Richter, Scheidung, Sorgerecht, Trennung, Treue, Zeugen Jehova