Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legt: Stadt der Diebe

„Meine Männer behaupten, dass es in Leningrad keine Eier gibt, aber ich bin überzeugt, dass in Leningrad alles zu haben ist, selbst heutzutage, ich brauche nur die richtigen Burschen dazu, um die Eier zu finden. Nämlich zwei Diebe.“

Das belagerte, ausgehungerte Leningrad im Jahr 1942. Die Deutschen stehen vor den Toren der Stadt, als dem 17-jährigen Lew ein ganz spezielles Carepaket vor die Füße fällt: ein toter deutscher Fallschirmspringer. In seiner Verzweiflung plündert er, was er in den Taschen des Feindes finden kann – und wird erwischt. Im Gefängnis lernt der schüchterne, in sich gekehrte junge Mann Kolja kennen, einen ganz und gar nicht in sich gekehrten Deserteur der russischen Armee. Die beiden jungen Männer könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch das Schicksal schickt das ungleiche Paar auf eine schier unmögliche Mission: um ihre Haut zu retten, sollen sie für die Hochzeit der Tochter eines Generals ein Dutzend Eier auftreiben – in einer Stadt, in der die Leute erst ihre Haustiere, später Sägemehl essen – und der eine oder andere auch seine Mitmenschen – um irgendwie am Leben zu bleiben. 

„Nachdem die Deutschen die Badajew-Lagerhäuser bombardiert hatten, wurden die Bäcker der Stadt kreativ. Alles, was sich zu einem Teig verarbeiten ließ, ohne Menschen zu vergiften, wurde zu einem Teig verarbeitet. Die ganze Stadt hungerte, keiner hatte genug zu essen, und trotzdem verfluchte jeder dieses Brot, seinen Sägemehlgeschmack, dass es in der Kälte steinhart wurde. […] Bis heute, wo ich selbst die Gesichter der Menschen, die ich liebte, vergessen habe, erinnere ich mich noch an den Geschmack dieses Brotes.“

Dieses Buch hat mich in unserem Griechenland-Urlaub an den Strand begleitet und so erlebte ich bei 30 Grad im Schatten die klirrende Kälte Leningrads im Januar 1942. Die Geschichte hat mich wahnsinnig gefesselt und ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

David Benioff hat es geschafft, das Grauen im Zweiten Weltkrieg in eine Geschichte zu packen, die sehr humorvoll und unterhaltsam geschrieben ist und sich dadurch sehr leicht und flüssig liest. Ob das zusammen passt, der leichte Schreibstil und der schwere Stoff, da scheiden sich die Geister der Kritiker. Für mich hat es das schon. Benioff hat für seine Geschichte Tagebücher von Überlebenden der Belagerung gelesen und vor Ort mit Zeitzeugen gesprochen und betonte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, dass er genau bei diesen Menschen immer wieder erlebt habe, wie sie ihrem Schicksal und ihrer Vergangenheit mit sehr viel „russischem“ Humor begegnet sind. Diesen Humor habe er in die Geschichte einfließen lassen wollen.

Ganz sicher ist Stadt der Diebe kein Buch, um sich umfassend über den Zweiten Weltkrieg oder Leningrad zu informieren. Aber es ist ein Buch, das sich dem Elend auf erträgliche Art annähert und auch nur in zweiter Linie vom Krieg, in erster Linie von Freundschaft (und ein wenig Liebe) handelt. Zwischen dem introvertierten Lew und dem Frauenhelden Kolja geht es natürlich auch oft um das Thema Frauen und Sex und die typischen Probleme heranwachsender junger Männer. Benioff ist mit Stadt der Diebe in meinen Augen einfach eine mitreißende, tragi-komische Geschichte gelungen, die ich wahnsinnig gern gelesen habe. Wer eine Geschichte sucht, die er nicht mehr aus der Hand legen kann, für den könnte Stadt der Diebe vielleicht das richtige Buch sein.

„Er sah aus, als mache er sich meinetwegen Sorgen, und plötzlich hätte ich am liebsten losgeheult. Der einzige Mensch auf der Welt, der wusste, welche Angst ich hatte, der einzige Mensch, der wusste, dass ich noch am Leben war und dass ich in dieser Nacht sterben konnte, war ein großmäuliger Deserteur, den ich drei Abende davor kennengelernt hatte, ein Wildfremder, ein Kosakensohn, mein letzter Freund.“

Ein wenig Verwirrung herrscht bei den Lesern um die Frage, ob dies ein Roman ist, der tatsächlich autobiografisch ist. Benioff suggeriert den Anschein von Authentizität, denn der Ich-Erzähler heißt David Benioff, er ist Drehbuchschreiber in Hollywood und er erzählt die Geschichte seiner Großeltern. Aber in Wirklichkeit ist Benioffs Großvater in den USA geboren und hat nie russischen Boden betreten. Die Geschichte ist zwar gut recherchiert – aber sie ist erfunden. Das macht sie für mich aber nicht weniger lesenswert!

Der erste Absatz

„Mein Großvater, der Messerstecher, tötete zwei Deutsche, bevor er achtzehn war. Ich erinnere mich nicht, dass es mir jemand erzählt hätte – ich schien es einfach schon immer zu wissen, so wie ich wusste, dass die Yankees bei Heimspielen Nadelstreifen trugen und auswärts Grau. Aber ich wusste es nicht von Geburt an. Wer erzählte es mir?“

Buchinformationen

Stadt der Diebe von David Benioff, Taschenbuchausgabe, erschienen im Mai 2010 im Heyne Verlag (Verlagsgruppe Random House). Aus dem Englischen von Ursula-Maria Mössner. 284 Seiten, 10,99 Euro. Deutsche Erstausgabe erschienen im Januar 2009. Originalausgabe erschienen im Juni 2008 unter dem Titel „City of Thieves“ bei Sceptre.

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Über den Autor

David Benioff, geboren 1970, debütierte 2002 mit dem Roman „25 Stunden“ (Heyne), der von Spike Lee mit Edward Norton und Philip Seymour Hoffman in den Hauptrollen verfilmt wurde. Seither arbeitet er als Drehbuchautor, adaptierte „Drachenläufer“ für das Kino und schrieb unter anderem mit Brad Pitt das Drehbuch zu „Troja“. Er lebt mit seiner Familie in New York.“


Genre: Abenteuerroman, Belletristik, Gegenwartsliteratur, Politischer Roman, Roman
Subjects: 2. Weltkrieg, Abenteuer, Freundschaft, Hunger, Kälte, Krieg, Leningrad, Liebe, Nationalsozialismus, Russland, Sowjetunion, Tod, Traum, Verlust, Zusammenhalt

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