Unorthodox: ein mutiges Buch über Freiheit und Selbstbestimmung

„Ich bin machthungrig, aber nicht, um über andere zu herrschen; nur, um mir selbst zu gehören.“

Williamsburg/New York. Sie lebt in New York, der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Und doch könnte das Leben der jungen Deborah nicht begrenzter sein. Deborah Feldman wächst in der chassidischen Satmar-Gemeinde auf, der strengsten ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft weltweit. Während um sie herum Frauen ihr Leben selbstbestimmt leben und ihre Freiheit genießen, besteht Deborahs Alltag aus Zwängen und Ritualen. In ihrer autobiografischen Erzählung gewährt uns die Autorin Einblicke in eine Welt, die uns sonst verschlossen bleibt und erzählt von Isolation und Unterdrückung, von Aufbegehren und Angst – und wie sie sich aus den Fängen des religiösen Extremismus befreit hat.

Buch Unorthodox-Deborah Feldman

Unorthodox“ beschreibt eine Welt, wie wir sie uns kaum vorstellen können. Wir, die mit allen Freiheiten aufgewachsen sind. Und doch ist es ein Leben, wie es im New York des 21. Jahrhunderts existiert. So tauchen wir mit diesem Buch ein, in eine limitierte Parallelwelt ohne Bildung, ohne Freiheit, ohne Selbstbestimmung. Die chassidische Satmar-Gemeinde in New York hält ihre Mitglieder in Unwissenheit und schirmt sie vom Rest der Welt ab. Männer und Frauen unterwerfen sich der strengen Einhaltung religiöser Regeln und dem hohen moralischen Anspruch, der allen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts zu trotzen scheint. Doch sind es vor allem die Mädchen und Frauen, deren Leben in jeder Faszette streng reglementiert ist. Es wird ihnen gesagt, wie sie sich kleiden müssen, wie sie ihr Haar zu tragen haben, was sie lesen dürfen und wen sie heiraten müssen. „Bildung, sagen sie, führt zu nichts Gutem.“ Fernsehen und Internet sind verboten. Es herrscht strikte Geschlechtertrennung. Jeder Kontakt außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft wird unterbunden.

Assimilation, so der chassidische Glaube, sei der Grund für den Holocaust. Gott habe die Juden bestraft, weil sie sich angepasst hätten. Und so schaffen die Chassidim eine größtmögliche Kluft zwischen ihnen und der Welt da draußen. Gegründet wurde die Gemeinschaft vor 110 Jahren in Ungarn, nach dem Holocaust wurde sie in Williamsburg wieder aufgebaut.

Schon früh beginnt Deborah, die Regeln ihrer Gemeinschaft und deren Isolation zu hinterfragen. Doch sie steht im ständigen Konflikt zwischen den Traditionen ihrer Gemeinde und den Wünschen ihrer Familie auf der einen Seite und ihrem inneren Drang nach Emanzipation und einem selbstbestimmten Leben auf der anderen Seite. Als Kind begehrt sie auf, indem sie im Verborgenen englischsprachige Romane liest. Später, als junge, zwangsverheiratete Frau, schreibt sie sich heimlich am College für englische Literatur ein, trägt dort Jeans und lässt – verborgen unter ihrer aufgezwungenen Perrücke – ihr Haar wachsen.

„Es war der Rebbe, der entschied, dass ich keine englischen Bücher lesen und nicht die Farbe Rot tragen dürfe. Er isolierte uns, und er tat es, damit wir uns niemals mit der Außenwelt vermengen konnten. Wenn ich nicht dabei war, als diese Vereinbarung getroffen wurde, warum bin ich dann immer noch verpflichtet, all diese Regeln zu befolgen?“

In ihrem Buch nimmt die Autorin uns mit auf ihrem Weg und mit durch ihre inneren Konflikte hin zu einem eigenverantwortlichen Leben in Freiheit. Doch hat diese Freiheit auch ihren Preis? Natürlich hat sie das, doch diese Frage bleibt weitgehend offen. Sie wird beantwortet, wenn man den Lebensweg von Deborah Feldman verfolgt und ich nehme an, Antworten findet man auch in ihrem zweiten Buch, „Überbitten„, das ich sicherlich auch noch lesen werde und in dem die Autorin beschreibt, wie sie acht Jahre nach ihrem Bruch mit den Satmarern nach Berlin zieht. Auf den Rat ihrer Anwältin hat Deborah Feldman ihre Geschichte aufgeschrieben. Sie hatte Angst, bei Verlassen ihres Ehemanns und ihrer Gemeinschaft auch ihren Sohn zurücklassen zu müssen, den sie mit 19 Jahren bekommen hat und der einer Zwangsheirat entstammt. Die Juristin hatte ihr geraten an die Öffentlichkeit zu gehen. Heute lebt die 34-Jährige mit ihrem Sohn in Berlin. „Unorthodox“ erschien 2012 und wurde gleich zum Bestseller.

„Seiner Göttlichkeit zuliebe muss ich mich selbst allmorgendlich aufgeben, Körper und Seele; für diesen Gott, sagen meine Lehrer, muss ich Stille erlernen, so dass ausschließlich seine Stimme durch mich gehört werden kann.“

Auf Netflix läuft derzeit die gleichnamige Serie „Unorthodox“ und sie gehört zu den Top10 des Streaming-Anbieters. Anders als das Buch, befasst sich die Serie weniger mit dem Heranwachsen eines Mädchens in der ultraorthodoxen Gemeinde in Brooklyn, sondern vielmehr mit dem Leben und der Identität der mittlerweile in Berlin lebenden jungen Frau und ihrem Zurechtfinden in der liberalen Gesellschaft. Die vierteilige Serie fasst dabei die beiden Bücher der Autorin mehr oder weniger zusammen. Ich habe die Serie selbst noch nicht gesehen. Sie muss neben viel Lob (hier zum Beispiel die Rezension der Serie Unorthodox in der Süddeutschen) auch Kritik einstecken (hier ein Artikel der Welt). Kritische Stimmen sagen, die Serie lasse wichtige Themen außen vor, wie den zunehmenden Antisemitismus oder die ursächliche Entstehung der ultraorthodoxen Gemeinschaften und ihrer Abschottung von der Welt, die in einer jahrhundertelangen Bedrohung des Judentums liegen.

Deborah Feldman selbst schreibt im Vorspann ihres Buches:

„Chassidische Juden in Amerika kehrten bereitwillig zurück zu einem Erbe, das an der Schwelle des Verschwindens gestanden hatte, trugen traditionelle Kleidung, sprachen, wie ihre Vorfahren auch, ausschließlich Jiddisch. […] Chassidische Juden richteten ihr wichtigstes Augenmerk auf die Fortpflanzung und wollten die vielen, die umgekommen waren, ersetzen und ihre Reihen wieder erstarken lassen. Bis zum heutigen Tag haben die chassidischen Gemeinden nicht aufgehört, rasant anzuwachsen, was als endgültige Rache an Hitler verstanden wird.“

Der Schreibstil der Autorin ist nüchtern und mitreißend zugleich. Mich hat ihre Geschichte tief berührt und sie hat mich zugleich ungläubig, bewundernd, mitleidig, fasziniert und entsetzt zurück gelassen. Den Mut der Autorin, auszubrechen aus der Enge ihres bekannten Lebens, hinein in ein neues, unbekanntes Leben, bewundere ich. Mit ihrem Entschluss hat sie ihr ganzes Leben, und damit auch ihre Familie hinter sich gelassen. Das Buch regt dazu an, sich näher mit dem ultraorthodoxen Judentum zu beschäftigen. Wie Deborah Feldman gibt es viele Aussteiger, doch die Selbstmordrate ist hoch.

„Die meisten sind nicht vorbereitet auf die Welt draußen, sie kennen nur das Leben in ihrer Gemeinde. Und draußen wartet niemand auf sie.“
Deborah Feldman

Der erste Absatz

Mein Vater hält meine Hand, als er mit dem Schlüssel zum Warenhaus hantiert. Die Straßen sind merkwürdig leer und ruhig in diesem Industriegebiet von Williamsburg. Hoch oben am Nachthimmel leuchten schwach die Sterne; in unmittelbarer Nähe zischen gespenstig Autos über die Schnellstraße. Ich blicke hinunter auf meine offensichtlich ungeduldig auf dem Bürgersteig wippenden Lederschuhe und beiße mir auf die Lippe, um den Impuls zu unterdrücken. Ich bin dankbar, hier zu sein. Es geschieht nicht jede Woche, dass mein Tati mich mitnimmt.“

Buchinformationen

Unorthodox von Deborah Feldman, Taschenbuch, 6. Auflage, Juli 2017, 384 Seiten, erschienen im btb Verlag_Verlagsgruppe Randomhouse, 10,00 Euro. Deutsche Erstausgabe 2016. Erstmals erschienen 2012 unter dem Titel „Unorthodox – The Scandalous Rejection of My Hasidic Roots“ bei Simon & Schuster, New York.

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Über die Autorin

Deborah Feldman (geb. 1986, New York) wuchs in der chassidischen Satmar-Gemeinde im zu Brooklyn gehörenden Stadtteil Williamsburg, New York, auf. Ihre Muttersprache ist Jiddisch. Sie studierte am Sarah Lawrence College Literatur. Heute lebt die Autorin mit ihrem Sohn in Berlin.“


Genre: Belletristik, Biografie, Gegenwartsliteratur, Gesellschaftsroman, Religion & Glaube, Roman
Subjects: Angst, Ehe, Einsamkeit, Familie, Gesellschaft, Glaube, Judentum, Leben, Lebenswege, Nationalsozialismus, New York, Religion, Selbstverwirklichung, USA

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