In der Psyche eines Serienkillers: Unter der Haut

„In all den Jahren“, sagte er, „habe ich nicht rausgefunden, worauf es mehr ankommt im Leben: ein Mädchen zu verführen oder ein gutes Buch zu lesen. Ich finde einfach keine Antwort. Dabei ist das doch die wichtigste Frage im Leben eines Mannes.“

New York im Sommer 1969. Der jüdische Literaturstudent Jonathan Rosen lernt durch einen scheinbaren Zufall den bibliophilen Frauenversteher Josef Eisenstein kennen – und ist sogleich von seiner geheimnisvollen, erfahrenen Aura fasziniert. Eisenstein nimmt den unerfahrenen Jonathan unter seine Fittiche – und weiht ihn in diesem Sommer nicht nur in die Kunst der Verführung ein, sondern führt ihn auch hinein in eine literarische und philosophische Welt – und gemeinsam frönen sie ihrer Leidenschaft für Frauen und Bücher. In den Straßen New Yorks gehen sie auf die Jagd – doch es ist immer Jonathan, der in Eisensteins Atelier die Frauen verführt, während Eisenstein zusieht. Jonathan fühlt sich seinem Lehrmeister verbunden wie niemandem zuvor, scheint regelrecht süchtig nach ihrer Freundschaft zu sein – und so will er nicht wahrhaben, dass über Eisenstein ein dunkles Geheimnis liegt. Eines Tages verschwindet sein Mentor spurlos aus seinem Leben. Erst viele Jahre später, als er in Israel lebt, scheint seine Vergangenheit Jonathan wieder einzuholen.

„Schon beim ersten Mal hatte sein stummer Blick uns beide seltsamerweise eher angespornt als verschüchtert, eher gereizt als gehindert, und doch war mir undeutlich im Hinterkopf die Vorstellung erschienen, es könnte irgendwie nicht richtig sein, was wir hier taten. Der Gedanke, ich müsste doch Scham verspüren wenn nicht vor den Augen eines fremden Mädchens, so doch vor denen eines erwachsenen Mannes, der mein Vater hätte sein können – und noch mehr die Befürchtung, das Ausbleiben dieser Scham weise auf einen schon lange geahnten psychischen Defekt hin, eine perverse Veranlagung, eine missratene Natur, die mir früher oder später zum Verhängnis werden würde.“

 

In seinem Debütroman „Unter der Haut“ erzählt der Kölner Philosoph und Kulturblogger Gunnar Kaiser die Geschichte des bibliophilen Serienmörders Josef Eisenstein. Ihm ist damit in jedem Fall ein außergewöhnliches Erstlingswerk gelungen, das verstörend und faszinierend zugleich ist. In verschiedenen Handlungssträngen erfährt man die Geschichte der beiden jüdischen Protagonisten Josef Eisenstein und Jonathan Rosen – die eng mit der Zeit des Nationalsozialismus verknüpft ist.

Das Buch ist mit 520 Seiten ein ganz schöner Wälzer und hatte für mich schon seine Längen. Abschweifende Gedanken, ausschweifende literarische Bezüge und Beschreibungen; nach meinem Empfinden hätte man das Buch besonders in der ersten Hälfte um einige Seiten kürzen können. Doch Gunnar Kaiser hat es immer wieder geschafft mich einzufangen und bei der Stange zu halten. Es fällt mir schwer das Buch einzuordnen, dass sich zwischen Krimi, Thriller und Roman hin und her zu bewegen scheint. Es ist Kriminal- und Kriegsgeschichte, Drama, psychologischer Thriller und eine Coming of age Geschichte, die sich da zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Kaiser hat einen sprachgewaltigen, recht philosophischen Schreibstil, der sicherlich nicht jedem Leser zusagt. Mir hat er gefallen und wer sich unsicher ist, der kann  ja vorher mal einen Blick ins Buch werfen.

Kaiser nimmt uns mit auf eine Reise ins Berlin der Dreiziger Jahre, ins New York der Sechziger und ins heutige Israel – und schafft es, diese lebendig vor dem Auge des Lesers entstehen zu lassen. Auch die Charaktere schaffen es, lebendig zu werden und, so kaputt sie auch sein mögen, zu faszinieren. Wohl gerade deshalb bleiben sie einem im Gedächtnis haften. Und so taucht man als Leser tief ein in die Psyche eines Serienkillers und lernt irgendwie nachzuvollziehen, wie es dazu kommen konnte, was falsch gelaufen ist in diesem Leben, so dass ein scharfsinniger Verstand verrückt werden kann. Aber nicht nur die Psyche von Serienkiller Eisenstein ist faszinierend, auch die Entwicklung seines Jüngers Jonathan Rosen ist es, der Zeit seines Lebens seiner höheren Bestimmung nachzujagen scheint.

„Warum nicht irgendwann die Wahrheit erzählen? Ich hab nur danebengestanden, war nie auf einem Marsch dabei, nicht ein einziges Mal festgenommen haben sie mich, und für anständige Drogen war ich auch zu feige, hab immer nur geredet und so getan, als würden mich irgendwelche Vietnamesen kümmern und die Schwarzen im Süden und die Situation der Frauen. Während ich doch nur ficken wollte und den Großen Amerikanischen Roman schreiben und berühmt sein. Die leidende Menschheit hat mich einen Scheißdreck interessiert, und Männer habe ich immer nur danach beurteilt, wie viele Frauen sie gehabt und wie viele Bücher sie gelesen haben.“

Die Atmosphäre und der Stil des Buches erinnert dabei sehr an Patrick Süskinds „Das Parfüm“. Das Buch lebt von seinen besessenen, unmoralischen, sinnsuchenden Protagonisten, von seinem Voyeurismus, dem der Leser frönen kann, und seiner Literaturbesessenheit, die sicherlich ihr Übriges getan hat, mich für den Stoff zu begeistern. Sehr gerne würde ich mal in Eisensteins Bibliothek stöbern.

„Eisensteins Privatblibliothek kam mir schon an diesem ersten von vielen Tagen, die ich nun von den frühen Morgenstunden an bis in die Nacht hinein bei ihm verbringen sollte, tadellos und vollendet vor. Nicht nur Qualität und Zustand der Bände, auch die Auswahl der einzelnen Titel und ihre Ordnung waren außerordentlich. Obwohl ich nicht ansatzweise alle Aufschriften lesen konnte und von denen, die ich las, nur teilweise gehört hatte, wusste ich, ich stand vor einer kostbaren Sammlung, die ein sehr begüteter Mann über Jahrzehnte aufgebaut haben musste. Wäre die Welt um uns herum untergegegangen und wären nur diese fünftausend Bände gerettet woreden, man hätte mit ihnen das Gedächtnis der Menschheit erneuern können.“

Für mich ist „Unter der Haut“ ein scharfsinniger, sehr spezieller aber unterhaltsamer und raffiniert ausgeklügelter Roman, der den Leser in die Psyche eines Serienkillers mitnimmt und es zu Recht auf die Longlist des Blogbuster Preises geschafft hat. Lest hier doch die Rezension von Kaffeehaussitzer Uwe Kalkowski, der den Roman damals nominiert hat und so dazu beigetragen hat, den Berlin Verlag und auch mich darauf aufmerksam zu machen. Ein großer Dank an dieser Stelle an den Verlag, dass er mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Zeit war sowieso etwas, was in seinem Reich nicht existierte. An den Wänden keine Uhren, Stunden und Minuten verschwammen zu einer trägen Masse, die Tage fransten aus bis zur Beliebigkeit. Und doch will es mir jetzt wie ein Warten erscheinen, ein Warten auf etwas Ungeheuerliches, das geschehen musste, unabwendbar.“

Der erste Absatz

„Als ich jung war, suchte ich nach Mädchen. Meine Suche begann am frühen Morgen des Tages, an dem ich zwanzig Jahre alt wurde, und sie endete unter den Sternen der letzten Sommernacht meines Lebens. Damals und dort, wo ich herkomme, nannte man Jungs wie mich mondsüchtig, und ein Süchtiger war ich. Aber mein Fall war wohl noch ein bisschen spezieller.

Buchinformationen

Unter der Haut von Gunnar Kaiser, gebundene Ausgabe, erschienen im März 2018 bei Piper im Berlin Verlag. 528 Seiten, 22,00 Euro.

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Über den Autor

Gunnar Kaiser, geboren 1976 in Köln, arbeitet als Lehrer für Deutsch und Philosophie. Er betreibt den Blog »Philosophisch leben« und den Youtube-Kanal »KaiserTV«. In renommierten Literaturzeitschriften und in Anthologien veröffentlichte er Kurzgeschichten und Gedichte. Er lebt in Köln.“


Genre: Belletristik, Coming of age, Krimi, Roman, Thriller
Subjects: Berlin, Bücher, Deutschland, Einsamkeit, Freundschaft, Gesellschaft, Glück, Israel, Judentum, Krieg, Leben, Lebenswege, Leidenschaft, Liebe, Mord, Nationalsozialismus, New York, Schicksal, Selbstverwirklichung, Serienmörder, Sex, Tod, Verlust

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