Ein letzter großer Irving: „Der letzte Sessellift“

„Es gibt mehr als nur eine Art zu lieben, Adam.“

New Hampshire. Adam Brewster wächst in einer eher unkonventionellen Familie auf, ohne Vater, dafür umgeben von starken Frauen. Seine Großmutter prägt und hält die Familie trotz aller Differenzen zusammen, seine Mutter – eine Skilehrerin – und seine Cousine outen sich als homosexuell und obwohl seine Mutter mit einer Frau – der „Pistenpflegerin“ – zusammenlebt, heiratet sie einen Mann – den „Schneeschuhläufer“ – der für Adam zur Vaterfigur, aber als Transgender zunehmend ebenfalls zur Frau wird. Die einzigen Männer in Adams Leben sind ein rein körperlich anwesender Großvater und ein abwesender, anfangs unbekannter Vater. Doch seine weibliche Familie ist unverbrüchlich und auch wenn jeder seinen eigenen Weg geht, hält sie über ein Leben hinweg zusammen – und darüber hinaus. Denn Adams Leben wird von Tragödien begleitet und von zahlreichen Geistern bevölkert. Die Fragen zu seinem Vater begleiten Adam von klein auf, doch erst Jahrzehnte später ist er bereit, sich wirklich den Geistern der Vergangenheit zu stellen.

Buchcover Der letzte Sessellift

Vorab muss ich sagen: ich liebe John Irving. Mit „Owen Meany“ oder „Bis ich dich finde“ hat er mich voll in seinen schriftstellerischen Bann gezogen. Auch mit „Der letzte Sessellift“ gelingt es Irving, skurrile und exzentrische Figuren zu erschaffen, die im Kopf und im Herzen bleiben und autobiografische Elemente und Ansichten zu einem fiktiven Roman umzugestalten. Es sind Themen, die wir bereits vom Autor kennen, die er in seinem gut 1000 Seiten schweren Text verarbeitet: starke Mütter und fehlende Väter, Familien abseits der Norm, Liebe & Sex, Homosexualität und Transgender, Sport, Politik und Religion, die USA & Kanada und natürlich: das Schreiben. In vielen Teilen ist dies auch wieder sehr gelungen und es ist ein Irving, wie wir ihn kennen und lieben. Gewürzt mit einer guten Prise schwarzen Humors und Verschrobenheit und einer starken Meinung zu vergangenem sowie aktuellem politischen Geschehen. Das Buch ist ein starkes Plädoyer für Toleranz, Vielfalt und Zusammenhalt.

John Irving ist ein toller, jedoch auch sehr ausschweifender Erzähler. Was mich zu meiner Kritik bringt: Der Hang des Autors zu Wiederholungen und zur Weitschweifigkeit machte den Roman für mich stellenweise langatmig. Man weiß nach dem Lesen definitiv mehr über das Skifahren, als man je wissen wollte, um nur ein Beispiel zu nennen. Das Irving einige lange Kapitel des Romans als Drehbuch verfasst hat, mag ein literarischer Kniff sein, machte das Lesen aber für mich zusätzlich anstrengend und immer wieder habe ich mich beim querlesen ertappt.

Wer über diese Längen hinwegsehen kann und wem Wiederholungen (und Gespenster ) nichts ausmachen, dem kann ich das Buch dennoch empfehlen. Denn es ist und bleibt eben ein echter Irving und vielleicht auch eine Art Vermächtnis des 81-jährigen Schriftstellers. „Ich wollte am Anfang eine Geschichte einer Familie ausbreiten, die vielen meiner Leserinnen und Lesern vertraut vorkommen wird. Und diese Geschichte sollte einige Dinge aus meinem eigenen Leben berühren, die wiederum mir am vertrautesten sind. Aber je weiter der Roman im Lauf der Jahre voranschreitet, umso weniger autobiografisch wird er. Und umso weniger vertraut wird er für meine Leser“, so John Irving im ARD-Interview mit Dennis Scheck.

Wichtige LGBTQ-Themen werden thematisiert und ein Familienmodell abseits von Traditionen gezeichnet. Warum ihm das Thema so sehr am Herzen liegt, erklärte der Autor in einem Interview: „Ich hatte einen jüngeren Bruder und eine Schwester, Zwillinge, die schwul und lesbisch waren.“

In „Der letzte Sessellift“ beschreibt John Irving außerdem erneut ein gesellschaftliches Bild der USA unter verschiedenen Regierungen und zieht klar Stellung zur Politik von Demokraten und Republikanern. Auch die katholische Kirche bekommt ihr Fett weg. Dabei schafft es John Irving gekonnt, Pointen zu setzen und Komik zu zelebrieren.

Es ist der 15. Roman des Bestseller-Autors und er hat bereits angekündigt, dass es sein letzter langer Roman sein wird. Fünf seiner Bücher wurden verfilmt. Für „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ bekam Irving einen Drehbuch-Oscar. Sein Werk wurde in 35 Sprachen übersetzt. 

Geboren wurde John Irving 1942 im US-Bundesstaat New Hampshire, in Exeter, wo auch sein letztes Buch spielt. Lange lebte Irving in Manhattan, dann zog er mit seiner zweiten Frau nach Toronto und Vermont, ebenfalls Schauplätze in „Der letzte Sessellift“. Irving lernte seinen biologischen Vater nie kennen und so spielt die Suche nach dem Vater immer wieder eine zentrale Rolle in seinen Romanen. Auch seine Leidenschaften, Schreiben und Ringen, finden wir immer wieder als Themen in seinen Büchern. Mit dem Ringen finanzierte Irving sein Schreiben, bis er Ende der 70er Jahre mit „Garp und wie er die Welt sah“ den Durchbruch schaffte. Auch das Ringen ist ein Thema, das für meinen Geschmack etwas zu exzessiv im Roman behandelt wird. 

Insgesamt bleibt mein Urteil zwiespältig, das zwischen 3 und 4 Sternen rangiert – aufgrund der Längen und Wiederholungen in Worten und Themen. Um die Essenz seines 45-jährigen Schaffens zu würdigen, gebe ich jedoch 4 Sterne und verspreche, auch meine liebsten Romane von Irving noch zu rezensieren. :-) 

Der Anfang

„Meine Mutter gab mir den Namen Adam, Sie wissen schon, nach wem. Sie sagte immer, ich sei ihr Ein und Alles.

Buchinformationen

Der letzte Sessellift von John Irving, Hardcover, 2023, 1.080 Seiten, erschienen im Diogenes Verlag, 36 Euro. Erstmals erschienen 2022 unter „The Last Chairlift“ bei Simon & Schuster, New York.

Buy Local! Hier im Hardcover online beim Buchhändler meines Vertrauens bestellen

Über den Autor

John Irving, geboren 1942 in Exeter, New Hampshire, lebt in Toronto und ist einer der begnadetsten Autoren Nordamerikas. Seine bisher 14 Romane wurden alle Weltbestseller, vier davon verfilmt. 2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹.“

 


Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur, Gesellschaftsroman, Roman, US-Romane
Subjects: Bücher, Ehe, erwachsen werden, Familie, Freundschaft, Gesellschaft, Glück, Homosexualität, Kinder, Leben, Lebenswege, LGBTQ, Liebe, Mutterschaft, New York, Religion, Schreiben, Sex, Tod, Toleranz, Traum, USA, Vater-Sohn-Beziehung, Verlust, Zusammenhalt

Ich freue mich über eure Kommentare, Fragen, Meinungen, Anregungen und und und :-) ...

%d Bloggern gefällt das: