„Nach einer wahren Geschichte“ – über eine ungesunde Frauenfreundschaft

„Wenn du nicht die kleine Verrücktheit an jemandem erkennst, kannst du ihn nicht lieben. Wenn du seinen Funken Wahnsinn nicht erkennst, verpasst du den Menschen. Der Funke Wahnsinn in ihm ist die Quelle seines Charmes.

Paris. In einer Bar lernt die zurückhaltende Autorin Delphine eine Frau kennen und ist angetan von der klugen, außergewöhnlichen und smarten L. Zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Frauen funkt es gleich beim ersten Treffen. Delphine ist fasziniert von L. und fühlt sich von ihr verstanden wie sie es selten zuvor erlebt hat. Nach ersten gelegentlichen Treffen wird der freundschaftliche Kontakt immer intensiver. Mit L. spricht Delphine über ihre Gefühle, über ihre Ängste und natürlich über ihren Beruf als Schriftstellerin. Als es zwischen den beiden Freundinnen zu einem Streit über Delphines neuen Roman kommt, stürzt die Autorin in eine Krise, die erst in einer Schreibblockade und schließlich in totaler Lähmung endet. Scheinbar selbstlos steht L. ihrer Freundin in der Krise bei und übernimmt nach und nach immer mehr Aufgaben für sie – bis Delphine plötzlich feststellt, dass L. ihr immer ähnlicher wird…

„Ja, manchmal kam mir in den Sinn, dass L. von fern oder nah mit diesem Zustand zu tun haben könnte. Allem Anschein nach trug sie mich, unterstützte und schützte sie mich. Doch in Wirklichkeit raubte sie mir meine Energie. […] Wenn ich sie beobachtete, hatte ich manchmal den Eindruck, mir selbst zuzusehen oder eher einem Double von mir, neu erfunden, stärker, mächtiger und aufgeladen mit positiver Energie. Von mir jedoch würde bald nur noch eine ausgetrocknete, tote Haut übrig sein, eine leere Hülle.“

Dieses Buch hat mir, wie die meisten meiner gelesenen Bücher, meine Buchhändlerin empfohlen – für einen Sommerurlaub am Strand und so hat mich Delphine de Vigan nach Griechenland begleitet. Mir hat das Buch wahnsinnig gut gefallen. Es ist in seiner Art und Weise so ganz anders geschrieben als andere Bücher und psychologisch sehr raffiniert.

Ganz besonders spannend fand ich, wie L. es schafft, sich in das Leben von Delphine hinein zu schleichen, wie sie es infiltriert und der Roman fast schon anmutet wie ein Krimi oder Thriller. Aufrüttelnd auch, wie die Autorin es trotz dieser eindeutig sehr zerstörerischen, destruktiven Frauenfreundschaft schafft, dass der Leser die Faszination Delphines dieser Frau gegenüber absolut nachempfinden kann.

„L. wohnte ganz in meiner Nähe. Sie arbeitete zu Hause und konnte frei über ihren Arbeitsplan und ihre Zeit entscheiden. L. rief mich an, weil sie an meinen Fenstern vorbeikam, weil sie ein Buch gelesen hatte, über das sie gern mit mir gesprochen hätte, weil sie ein Lokal entdeckt hatte, wo man in Ruhe einen Tee trinken konnte. Sie verschmolz mit meinem Leben, weil sie frei kam und ging, weil sie sich Unvorhergesehenes und Ungeplantes gönnte, weil es ihr normal erschien zu sagen, ich stehe vor deinem Haus, als wären wir noch fünfzehn, ich erwarte dich an der Kreuzung, wir treffen uns vor der Bäckerei […]. L. liebte es, im letzten Moment zu entscheiden, ihre Pläne zu ändern, einen Termin abzusagen, um eine nette Begegnung auszukosten, ein Dessert zu nehmen oder einfach ein Gespräch, das sie interessierte, nicht abzubrechen. L. kultivierte eine Art der Hingabe an den Augenblick, die sie für mich einzigartig machte, für mich, die ich seit so langer Zeit meine Ängstlichkeit dadurch zu mildern versuchte, dass ich mich mit mehr oder weniger Erfolg bemühte, alles vorauszudenken.“

Grandios fand ich das Spiel der Autorin zwischen Fiktion und Realität. Delphine de Vigan schreibt über ihr eigenes Leben als Autorin, über ihren Partner, ihre Kinder – und natürlich über ihr sehr persönliches, sehr erfolgreiches Buch – „Das Lächeln meiner Mutter“ – in dem die Autorin die Geschichte und den Selbstmord ihrer Mutter verarbeitet hat. All das ist Realität. Und doch, irgendwann im Laufe des Buches beginnt man darüber zu rätseln: ist dies tatsächlich nach einer wahren Geschichte? Was ist Realität, was Fiktion? Dieses Spiel der Verwirrung beherrscht Delphine de Vigan perfekt.

Die Autorin schildert außerdem auf sehr persönliche Weise ihre Beziehung zum Schreiben und in ihren Betrachtungen fand ich mich ziemlich oft selbst wieder. Auch das machte das Buch für mich wahnsinnig sympathisch. Überhaupt, wenn man selbst gerne schreibt, liebt man oftmals Bücher, die einen Blick hinter die Kulissen des Schriftstellerlebens gewähren. Delphine de Vigan lässt uns daran teilhaben. Alles in allem: Ein wahres Lesevergnügen! Ich werde ganz sicherlich noch weitere Bücher der Autorin lesen, allen voran ihren Roman „Das Lächeln meiner Mutter.“

„Das Schreiben war mein privatester, am besten abgeschotteter und geschützter Raum. Den ich am wenigsten teilte. Ein egoistisch verteidigter Raum. Verbarrikadiert. Ein Raum, den ich nur selten und beiläufig erwähnte.“

Der erste Absatz

„Einige Monate nach dem Erscheinen meines jüngsten Romans hörte ich auf zu schreiben. Fast drei Jahre lang schrieb ich keine Zeile. Solche Redewendungen sind manchmal wörtlich zu nehmen: Ich schrieb kein einziges Behördenschreiben, keinen Dankesbrief, keine Ansichtskarte, keinen Einkaufszettel. Nichts, was irgendein Formbemühen oder Formulieren verlangt hätte. Keine Zeile, kein Wort. Beim Anblick eines Blocks, eines Hefts oder einer Briefkarte wurde mir übel.

Buchinformationen

Nach einer wahren Geschichte von Delphine de Vigan, Taschenbuchausgabe, erschienen im August 2017 im DuMont Buchverlag. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. 352 Seiten, 11,00 Euro. Deutsche Erstausgabe erschienen 2018. Originalausgabe erschienen 2015 unter dem Titel „D’après une histoire vraie“ bei JC Lattès, Paris.

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Über die Autorin

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien 2017 ihr Debütroman ›Tage ohne Hunger‹. Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.“


Genre: Belletristik, Gegenwartsliteratur, Roman
Subjects: Autor, Bücher, Bücherliebe, Familie, Frauenfreundschaft, Freundschaft, Kinder, Liebe, Paris, Schreibblockade, Schreiben, Schriftstellerei, Seelenverwandtschaft

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